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Verwaltungsgericht Bremen Urteil vom 10.06.2021 - 5 K 1958/18 - Zur Rechtmäßigkeit einer Geschwindigkeitsbeschränkung aus Gründen des Schutzes vor Verkehrslärm.

VG Bremen v. 10.06.2021: Zur Rechtmäßigkeit einer Geschwindigkeitsbeschränkung aus Gründen des Schutzes vor Verkehrslärm.




Das Verwaltungsgericht Bremen (Urteil vom 10.06.2021 - 5 K 1958/18) hat entschieden:

   Zur Rechtmäßigkeit einer Geschwindigkeitsbeschränkung aus Gründen des Schutzes vor Verkehrslärm.

Orientierungspunkte für die Bestimmung der Zumutbarkeitsgrenze sind u.a. die Richtwerte aus § 2 Abs. 1 der Verkehrslärmschutzverordnung.

Siehe auch
Lärmschutz
und
Stichwörter zum Thema Geschwindigkeit

Tatbestand:


Der Kläger wendet sich gegen die Anordnung einer ganztägigen Geschwindigkeitsbeschränkung.

Der Ausschuss für öffentliche Sicherheit der Stadtverordnetenversammlung Bremerhaven beschloss am 16.11.2015, den Magistrat aufzufordern, in der Bürgermeister-Smidt-Straße zwischen dem Bürgermeister-Martin-Donandt-Platz und dem Waldemar-Becké-Platz (sogenannte Alte Bürger) eine ganztägige Geschwindigkeitsbeschränkung von 30 km/h anzuordnen. Die Bürgermeister-Smidt-Straße ist eine Hauptverkehrsstraße im Bremerhavener Stadtteil Mitte. Der streitgegenständliche Streckenabschnitt ist ca. 400 Meter lang und weist eine geschlossene Bauweise mit fünf bis sieben Vollgeschossen auf. Während in den Erdgeschossen überwiegend eine gewerbliche Nutzung (insbesondere Gastronomie und Handel) stattfindet, werden die oberen Geschosse zu Wohnzwecken genutzt. In dem Streckenabschnitt verkehren zwei Buslinien, eine Schnellbuslinie und eine Nachtlinie. Für Kraftfahrzeuge über 3,5 t ist die Durchfahrt mit Ausnahme des Lieferverkehrs beidseitig verboten. Krafträdern ist die Durchfahrt von 20.00 Uhr bis 6.00 Uhr untersagt. An der Kreuzung Bürgermeister-Smidt- Straße/Schleusenstraße befindet sich eine Lichtsignalanlage, die von 21.00 Uhr bis 6.00 Uhr abgeschaltet ist. Zum Zeitpunkt der Beschlussfassung des Ausschusses für öffentliche Sicherheit galt für diesen Streckenabschnitt bereits von 20.00 Uhr bis 6.00 Uhr eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h (Verkehrszeichen 274-30 mit entsprechenden Zusatzzeichen 1040-30).

Das Bürger- und Ordnungsamt des Magistrats der Beklagten (im Folgenden: Straßenverkehrsbehörde) ordnete am 01.12.2015 den Abbau der Zusatzzeichen 1040-30 der Verkehrszeichen 274-30 im streitgegenständlichen Streckenabschnitt an. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Bürgermeister-Smidt-Straße in diesem Bereich durch Gastronomie gekennzeichnet sei und die Aufenthaltsfunktion auch tagsüber einen hohen Anteil bilde. Auf den Gehwegen befänden sich – teilweise bis zum Fahrbahnrand – Tische und Stühle der Außengastronomie. Die Verkehrssituation werde zudem durch Lieferfahrzeuge beeinträchtigt. Die Geschwindigkeitsbeschränkung sei zur Stärkung der Aufenthaltsfunktion und zur Vermeidung von Verkehrsgefährdungen der Gäste der Außengastronomie gerechtfertigt. Im Rahmen der Abwägung müssten die Interessen des fließenden Verkehrs gegenüber der Sicherheit der Verkehrsteilnehmer und dem Schutz der Nutzer des Quartiers zurücktreten. Es sei zumutbar, dass der fließende Verkehr diese kurze Strecke mit einer Geschwindigkeit von 30 km/h zurücklege. Die Zusatzzeichen wurden am 18.12.2015 abgebaut.

Mit Schreiben vom 18.05.2016 erhob der Kläger, der ca. 600 Meter vom südlichen Ende des Streckenabschnitts entfernt seine Kanzlei betreibt, Widerspruch gegen die Anordnung vom 01.12.2015. Zur Begründung bezog er sich auf den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Bremen vom 11.02.2016 (Aktenzeichen 1 B 241/15). Dieses Eilverfahren betraf ebenfalls die Anordnung einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h in Bremerhaven, die mit dem Schutz der Wohnbevölkerung vor Verkehrslärm begründet wurde. Das Oberverwaltungsgericht verpflichtete die hiesige Beklagte, die entsprechenden Verkehrszeichen wieder zu entfernen oder abzudecken, da die sich aus einer Lärmkartierung nach §47c BImSchG i.V.m. der 34. BImSchV ergebenden Beurteilungspegel keine hinreichende Tatsachengrundlage für eine Verkehrsbeschränkung zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Verkehrslärm darstellten. Nachdem die Straßenverkehrsbehörde erwiderte, dass sich der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts – anders als vorliegend – auf eine Anordnung nach §45 Abs.1 Satz2 Nr.3 StVO beziehe und dem Widerspruch daher nicht abgeholfen werden könne, begründete der Kläger seinen Widerspruch weiter. Es sei unklar, auf welche Rechtsgrundlage die straßenverkehrsrechtliche Anordnung gestützt werde. Die Ermessenserwägungen entsprächen nicht den tatsächlichen Verhältnissen, da der Streckenabschnitt bis zum frühen Abend kein hohes Fußgängeraufkommen aufweise und auch keine Aufenthaltsfunktion existiere. Es handele sich seit jeher um eine Kneipenmeile, die erst ab 22.00 Uhr aufgesucht werde. Der Schutz der Gäste der Außengastronomie werde durch die Absperrungen zur Fahrbahn gewährleistet.

Unter dem 25.07.2016 informierte der zuständige Kontaktpolizist die Straßenverkehrsbehörde darüber, dass sich die Aufenthaltsfunktion im streitgegenständlichen Streckenabschnitt durch die Geschwindigkeitsbeschränkung erheblich verbessert habe. Die „Alte Bürger“ werde von früh morgens bis in die späten Abendstunden durchgängig zum Aufenthalt genutzt.

Mit Schreiben vom 17.08.2016 bat die Straßenverkehrsbehörde das Amt für Straßen- und Brückenbau, die Verkehrszeichen 274-30 in dem Streckenabschnitt abzudecken und eine schalltechnische Untersuchung unter Berücksichtigung der Richtlinien für den Lärmschutz an Straßen (im Folgenden: RLS-90) durchführen zu lassen. Es sei beabsichtigt, die straßenverkehrsrechtliche Anordnung im Widerspruchsverfahren u.a. auch auf §45 Abs.1 Satz2 Nr.3 StVO zu stützen, da die Grundlage der Entscheidung des Ausschusses für öffentliche Sicherheit im Widerspruchsverfahren eventuell keinen Bestand habe und mitgeteilt worden sei, dass sich die Lärmbelastung durch die Geschwindigkeitsbeschränkung erheblich reduziert habe. Die Verkehrszeichen wurden am 31.08.2016 abgedeckt.

Das Amt für Straßen- und Brückenbau legte Ende September 2016 eine erste Version einer schalltechnischen Berechnung nach der RLS-90 vor. Der Bearbeiter, Herr … vom Stadtplanungsamt Bremerhaven, nahm nach Vorlage des Berichts an die Straßenverkehrsbehörde ausweislich einer E-Mail vom 27.10.2016 noch Änderungen im Bericht vor: Aufgrund der Berücksichtigung der tatsächlichen Gebäudehöhen seien ein erhöhter Zuschlag für Mehrfachreflexionen und ein etwas höherer Immissionsort zugrunde gelegt worden.

In der zweiten Version der schalltechnischen Berechnung für die Bürgermeister-Smidt- Straße zwischen Bürgermeister-Martin-Donandt-Platz und Waldemar-Becké-Platz vom 27.10.2016 werden eingangs die Aufgabenstellung und die tatsächliche Situation des Untersuchungsbereichs beschrieben. Anschließend werden die rechtlichen Grundlagen sowie die Grenz-, Orientierungs- und Immissionsrichtwerte dargestellt. Sodann wird auf das Berechnungsverfahren eingegangen: Die Berechnung der Schallemission der Straße und des vom Straßenverkehr herrührenden Beurteilungspegels am Immissionsort erfolge anhand der Formeln aus Abschnitt 4 der RLS-90 mit Hilfe eines Tabellenkalkulationsprogrammes. Die Höhe der Schallemission sei abhängig von der Verkehrsstärke, dem LKW-Anteil, der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, der Art der Straßenoberfläche und der Gradiente. Für beide Straßenseiten sei exemplarisch der Ort mit der höchsten Belastung (Immissionsort im 1. Obergeschoss im Nahbereich der Lichtsignalanlage) gewählt worden. Die ermittelten Werte ließen sich aufgrund des homogenen Straßenbildes und der einheitlichen Eingangsdaten und Ausbreitungs- und Reflexionsbedingungen auf weitere Immissionsorte übertragen, wobei die geänderten Zuschläge für Lichtsignalanlagen zu berücksichtigen seien. Nach der Darstellung der verwendeten Eingangsdaten wird als Ergebnis festgestellt, dass die Pegeldifferenz zwischen dem Fall Tempo 50 und dem Fall Tempo 30 sowohl am Tag als auch in der Nacht 2,4 dB(A) betrage. Der auf volle dB(A) aufgerundete Beurteilungspegel betrage am Immissionsort am Tag bei 50 km/h 72 dB(A) und bei 30 km/h 69 dB(A). Je nach Entfernung zur Lichtsignalanlage (40 bis 70 Meter, 70 bis 100 Meter, über 100 Meter) verminderten sich diese Werte um 1 bis 3 dB(A). Für die Nachtzeit (22.00 Uhr bis 6.00 Uhr) sei aufgrund der Abschaltung der Lichtsignalanlage kein Zuschlag berücksichtigt worden, sodass der auf volle dB(A) aufgerundete Beurteilungspegel nachts bei 50 km/h bei 62 dB(A) und bei 30 km/h bei 60 dB(A) liege. Unter dem Punkt „II. Berechnungsunterlagen“ wird das Berechnungsergebnis unter Angabe der wesentlichen Daten zusammengefasst. Die im gerichtlichen Verfahren vorgelegte Excel-Tabelle enthält die einzelnen Berechnungsschritte zur Ermittlung der Lärmbelastung. Die Immissionsrichtwerte der Richtlinien für straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor Lärm vom 23.11.2007 (im Folgenden: Lärmschutz-Richtlinien-StV) für Mischgebiete seien jeweils erreicht, aber nicht überschritten. Da die Pegeldifferenz aufzurunden sei, liege eine Pegelminderung von 3 dB(A) vor. Die Geschwindigkeitsbeschränkung sei eine geeignete straßenverkehrsrechtliche Lärmschutzmaßnahme.




Der schalltechnischen Berechnung wurden Daten einer Verkehrserhebung vom 03.06.2013 bis zum 10.06.2013 in der Bürgermeister-Smidt-Straße 133 zugrunde gelegt. Die Verkehrszählung ergab ein Verkehrsaufkommen von stündlich 415 Kraftfahrzeugen zwischen 6.00 Uhr und 22.00 Uhr (davon 3,2 % LKW-Anteil, insgesamt 213 Kraftfahrzeuge) und stündlich 110 Kraftfahrzeugen zwischen 22.00 Uhr und 6.00 Uhr (davon 2,4 % LKW-Anteil, insgesamt 22 Kraftfahrzeuge). Zum Zeitpunkt dieser Verkehrserhebung bestand nur in südlicher Fahrtrichtung ein Durchfahrtsverbot für Kraftfahrzeuge über 3,5 t.

Die Straßenverkehrsbehörde informierte den Kläger unter Darlegung des Ergebnisses der schalltechnischen Berechnung darüber, dass die Abdeckung der Verkehrszeichen wieder entfernt werde. Die bereits erfolgte Abwägung der widerstreitenden Interessen sei um das Interesse der Bewohner an einer Reduzierung des Verkehrslärms zu ergänzen. Da die Lärmbelastung spürbar verringert werde, überwiege das Interesse der Bewohner. Der fließende Verkehr habe die Möglichkeit, die parallel verlaufende, gut ausgebaute Barkhausenstraße zu nutzen, wo keine Geschwindigkeitsbeschränkung gelte. Die Begründung der verkehrsrechtlichen Anordnung werde daher auf §45 Abs.1 Satz2 Nr.3 StVO „ausgedehnt“.

Nachdem der Kläger die schalltechnische Berechnung u.a. hinsichtlich des zugrunde gelegten sogenannten Schwerverkehrs angegriffen hatte, informierte der Senator für Umwelt, Bau und Verkehr (im Folgenden: Widerspruchsbehörde) ihn darüber, dass eine erneute Verkehrszählung zum Schwerverkehr veranlasst worden sei. Diese erfolgte vom 10.04.2018 bis zum 13.04.2018 im Nahbereich der Lichtsignalanlage an der Kreuzung Bürgermeister-Smidt-Straße/Schleusenstraße. Dabei wurden am 11.04.2018 binnen 24 Stunden insgesamt 253 Schwerverkehre erfasst, davon 21 nachts. Am Folgetag wurden insgesamt 282 Schwerverkehre erfasst, davon 22 nachts. Der Kläger wurde über das Ergebnis der erneuten Verkehrszählung in Kenntnis gesetzt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 19.07.2018 wurde der Widerspruch vom 18.05.2016 zurückgewiesen. Rechtsgrundlage für die Verkehrsanordnung sei §45 Abs.1 Satz2 Nr.3 i.V.m. Abs.9 Satz3 StVO. Die Vorschrift ermögliche Schutz vor Verkehrslärm nicht erst dann, wenn ein bestimmter Schallpegel überschritten sei. Es genüge, dass der Lärm Beeinträchtigungen mit sich bringe, die jenseits dessen lägen, was unter Berücksichtigung der Belange des Verkehrs im konkreten Fall als ortsüblich hinzunehmen und daher zumutbar sei. Es seien die Wertungen der Sechzehnten Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes vom 12.06.1990 (im Folgenden: Verkehrslärmschutzverordnung) zu berücksichtigen, wonach Beurteilungspegel von 70 dB(A) am Tag und 60 dB(A) in der Nacht unzumutbar seien. Die schalltechnische Berechnung habe ergeben, dass die Richtwerte für Mischgebiete (72 dB(A) tags und 62 dB(A) nachts) erreicht würden und eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h den Beurteilungspegel um 3 dB(A) senke. Die ergänzende Verkehrszählung habe gezeigt, dass sogar von noch mehr Schwerverkehr auszugehen sei. Ein Großteil des Schwerverkehrs resultiere aus dem Busverkehr (197 Busse täglich). Die Zählung des Schwerverkehrs sei zudem sehr konservativ, da Kraftfahrzeuge zwischen 2,8 t und 3,5 t aufgrund ihrer Länge den PKW zugeordnet und nicht als Schwerverkehr gezählt worden seien, sie nach den RLS-90 aber als Schwerverkehr gelten. Die straßenverkehrsrechtliche Anordnung sei ermessensfehlerfrei ergangen. Neben der erheblichen Reduzierung der Lärmbelastung sei die Verbesserung der Aufenthaltsqualität sowie die Erhöhung der Verkehrssicherheit zu berücksichtigen. Dies ergebe sich auch aus der eingeholten Stellungnahme des Kontaktpolizisten. Die Geschwindigkeitsbeschränkung sei auch verhältnismäßig, da die bisherige Reduzierung nur zur Nachtzeit zwar milder, aber nicht gleich geeignet sei, um die Lärmbelastung zu verringern. Dass sich durch die Maßnahme der Verkehr auf die Barkhausenstraße verlagern könne, sei unbeachtlich, da diese Straße durch ein Gewerbegebiet verlaufe und eine Lärmbelastung anderer Bewohner nicht zu befürchten sei. Die Zustellung des Widerspruchsbescheids erfolgte am 24.07.2018.

Am 24.08.2018 hat der Kläger Klage erhoben. Es liege keine besondere Gefahrenlage im Sinne des §45 Abs.9 Satz3 StVO vor und die Anordnung der ganztägigen Geschwindigkeitsbeschränkung sei nicht zwingend erforderlich. Der Verkehrslärm stelle keine besondere Gefährdung dar, da die Beklagte diesen Streckenabschnitt nicht bei den Empfehlungen nach dem Lärmkataster berücksichtigt habe. Die schalltechnische Berechnung sei zu beanstanden. Bereits die Sachverhaltsdarstellung sei unzutreffend, da sich der südliche Abschnitt zwischen Schleusenstraße und Bürgermeister-Smidt-Straße nicht im Geltungsbereich des Bebauungsplans 250 befinde. Es seien Immissionsorte im Nahbereich der Lichtsignalanlage gewählt worden, bei denen aufgrund des Zuschlages der höchste Wert zu erwarten gewesen sei. Der maßgebliche Beurteilungspegel werde nicht überschritten. Nach der ersten Version der schalltechnischen Berechnung sei die Berechnung nachjustiert worden, um wenigstens an den beiden Immissionsorten rechnerisch 72 dB(A) zu erreichen. Eine Berechnung für die gesamte Straße fehle. Da in den restlichen Teilen des Abschnitts der Zuschlag von 3 dB(A) entfalle, werde dort der Richtwert nicht annähernd erreicht. Eine Verkehrszählung an zwei Tagen könne zudem keine Grundlage für eine ordnungsgemäße Berechnung sein. Das nächtliche Abschalten der Lichtsignalanlage sei nicht berücksichtigt worden. Es sei auch nicht nachvollziehbar, dass trotz des Durchfahrtsverbots täglich 33 LKW berechtigt wären, diesen Streckenabschnitt zu befahren. Ferner sei unklar, weshalb das LKW-Aufkommen bei – nunmehr – beidseitigem LKW-Durchfahrtsverbot genauso hoch sei wie beim einseitigen Durchfahrtsverbot im Jahre 2013. Ein formloser Austausch der Ermessenserwägungen sei nicht zulässig und die ursprüngliche Begründung der Straßenverkehrsbehörde zur Stärkung der Aufenthaltsfunktion und zum Schutz vor Verkehrsgefährdungen unhaltbar.

Der Kläger beantragt,

   die Anordnung der Beklagten als Straßenverkehrsbehörde vom 01.12.2015, in der Bürgermeister-Smidt-Straße in dem Abschnitt zwischen dem Bürgermeister- Martin-Donandt-Platz und dem Waldemar-Becké-Platz ganztägig Tempo 30 anzuordnen, in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Senators für Umwelt, Bau und Verkehr vom 19.07.2018 aufzuheben, soweit es den Zeitraum täglich von 06.00 Uhr bis 20.00 Uhr betrifft.

Die Beklagte beantragt,

   die Klage abzuweisen.<

Sie ergänzt ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsbescheid. Der streitgegenständliche Streckenabschnitt sei eng bebaut. Aufgrund der ansässigen Restaurants und Gaststätten sei ein hohes Fußgängeraufkommen zu verzeichnen. Eine mögliche Zeitersparnis bei der Nutzung der Bürgermeister-Smidt-Straße mit 50 km/h müsse hinter den Interessen der Anwohner zurücktreten. Da sich die Geschwindigkeitsbeschränkung nur auf einen kurzen Abschnitt erstrecke, sei die Funktion der Bürgermeister-Smidt-Straße als Hauptverkehrsstraße nicht wesentlich beeinträchtigt.

Die Kammer hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Herrn … als sachverständigen Zeugen. Diesbezüglich wird Bezug genommen auf das Sitzungsprotokoll vom 10.06.2021.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.




Entscheidungsgründe:


Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig (I.), aber unbegründet (II.).

I. Die Klage ist als Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) statthaft und auch im Übrigen zulässig.

Verkehrsbezogene Ge- und Verbote in Form von Verkehrszeichen bzw. die damit bekanntgegebenen straßenverkehrsrechtlichen Anordnungen stellen Dauerverwaltungsakte in Form von Allgemeinverfügungen gemäß § 35 Satz 2 Alt. 3 BremVwVfG dar, die mit der Anfechtungsklage angefochten werden können (vgl. BVerwG, Beschl. v. 01.09.2017 – 3 B 50/16 –, juris Rn. ; Stelkens, in: Stelkens/ Bonk / Sachs,9.Aufl. 2018,VwVfG §35 Rn.330ff.;Will,in: Beck OKStVR, 11.Ed.15.04.2021,StVO§45 Rn.6).

Da der Kläger in der Nähe des streitgegenständlichen Streckenabschnitts seine Kanzlei betreibt, ist er als Verkehrsteilnehmer des Gebietes auch klagebefugt, § 42 Abs. 2 VwGO. Er kann eine Verletzung seiner Rechte dahingehend geltend machen, dass die Voraussetzungen einer Verkehrsbeschränkung nach § 45 StVO nicht gegeben seien (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.01.1993 – 11 C 35/92 –, juris Rn. 14). Der Kläger hat auch erfolglos das vorgeschriebene Vorverfahren durchgeführt, §§ 68 ff. VwGO. Infolge des Abdeckens der Verkehrsschilder im August 2016 sowie des Entfernens dieser Abdeckungen im November 2016 bedurfte es keines (erneuten) Widerspruchs. Denn der Widerspruch vom 18.05.2016 hatte sich durch das Abdecken der Verkehrsschilder nicht erledigt, da der angegriffene Verwaltungsakt dadurch nicht aufgehoben, sondern dessen Vollzug lediglich vorübergehend ausgesetzt wurde (siehe dazu BVerwG, Urt. v. 27.01.1993 – 11 C 35/92 – , juris Rn. 12; Stelkens, in: Stelkens/ Bonk/ Sachs, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 35 Rn. 335).




II.

Die Klage hat in der Sache keinen Erfolg.

Die straßenverkehrsrechtliche Anordnung vom 01.12.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2018 ist rechtmäßig, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

1. Maßgeblicher Zeitpunkt der Sach- und Rechtslage ist vorliegend der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, da es sich bei Verkehrszeichen bzw. straßenverkehrsrechtlichen Anordnungen um Dauerverwaltungsakte handelt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 01.09.2017 – 3 B 50/16 –, juris Rn. 8 und Urt. v. 18.11.2010 – 3 C 42/09 –, juris Rn. 14). Abzustellen ist daher auf § 45 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 3, Abs. 9 StVO in der seit dem 24.12.2020 geltenden Fassung. Gemäß § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten. Das gleiche Recht haben sie gemäß § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen. Erforderlich ist damit eine konkrete Gefahr für ein öffentliches Schutzgut, wobei es ausreichend ist, dass die Befürchtung naheliegt, dass irgendwann in überschaubarer Zukunft mit hinreichender Wahrscheinlichkeit mit dem Eintritt eines Schadensfalles zu rechnen ist (BVerwG, Urt. v. 13.12.1979 – 7 C 46/78 –, juris Rn. 18). Nach § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO sind Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen nur dort anzuordnen, wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist. § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO enthält eine Modifikation des Gefahrenbegriffs für Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs. Diese dürfen nur angeordnet werden, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt.

2. Die tatbestandlichen Voraussetzungen aus § 45 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 3, Abs. 9 StVO liegen hier vor.

Aufgrund der festgestellten Lärmbelastung besteht eine konkrete Gefahr für ein öffentliches Schutzgut (siehe dazu a) und b)). Die Anordnung der Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h auch von 6.00 Uhr bis 20.00 Uhr ist zur Gefahrenabwehr zwingend erforderlich und auch die Voraussetzungen aus § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO liegen vor (siehe dazu c)).

a) Aus der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur StVO, die eine im Bundesgebiet einheitliche Ausführung der StVO sicherstellen soll, folgt, dass Geschwindigkeitsbeschränkungen, die – wie hier – auf den Schutz vor Verkehrslärm gestützt werden, nur nach Maßgabe der Lärmschutz-Richtlinien-StV angeordnet werden dürfen (Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur StVO, § 41, Zeichen 274, Punkt X.). Ziel dieser Richtlinien ist es, den Straßenverkehrsbehörden eine Orientierungshilfe zur Entscheidung über straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Straßenverkehrslärm an die Hand zu geben (vgl. die Einleitung zu den Lärmschutz-Richtlinien-StV). Gemäß Nr. 2.2 Lärmschutz-Richtlinien-StV sind die RLS- 90 für die Berechnung des Beurteilungspegels und die Bestimmung des Immissionsortes maßgeblich. Da Nr. 2.2 Lärmschutz-Richtlinien-StV (weiterhin) auf die RLS-90 verweist, finden die am 01.03.2021 in Kraft getretenen Richtlinien für den Lärmschutz an Straßen (RLS-19), amtlich bekannt gemacht am 31.10.2019, durch die die RLS-90 überarbeitet wurden (zu den Änderungen siehe Springe, in: Kodal, Handbuch Straßenrecht, 8. Aufl. 2021, 32. Kap. Rn. 156), vorliegend keine Anwendung. Durch die RLS-90 soll erreicht werden, dass bei der Berechnung der Lärmbelastung einheitlich verfahren wird; sie geben aber ebenso wenig wie andere gesetzliche, verordnungsrechtliche oder verwaltungsinterne Regelungen verbindlich vor, welche Lärmwerte erreicht sein müssen, damit die Straßenverkehrsbehörden bei bereits bestehenden Straßen Lärmschutzmaßnahmen ergreifen dürfen. Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung ermöglicht § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i.V.m. Abs. 9 StVO Schutz vor Verkehrslärm nicht erst dann, wenn dieser einen bestimmten Schallpegel überschreitet. Es genügt vielmehr, dass der Lärm Beeinträchtigungen mit sich bringt, die jenseits dessen liegen, was unter Berücksichtigung der Belange des Verkehrs im konkreten Fall als ortsüblich hingenommen und damit zugemutet werden muss (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 11.02.2016 – 1 B 241/15 –, juris Rn. 18 mit Verweis auf BVerwG, Urt. v. 04.06.1986 – 7 C 76/84 –, juris Rn. 13; Urt. v. 22.12.1993 – 11 C 45/92 –, juris Rn. 26). Erforderlich ist danach eine Einzelfallbetrachtung.

Orientierungspunkte für die Bestimmung der Zumutbarkeitsgrenze sind zum einen die Richtwerte aus Nr. 2.1 Lärmschutz-Richtlinien-StV. Danach kommen straßenverkehrsrechtliche Lärmschutzmaßnahmen insbesondere in Betracht, wenn der vom Straßenverkehr herrührende Beurteilungspegel am Immissionsort in einem Mischgebiet 72 dB(A) am Tag und 62 dB(A) in der Nacht überschreitet. Die Werte der Lärmschutz-Richtlinien-StV stellen eine Art Obergrenze dar; sind diese überschritten, wandelt sich der Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung der Straßenverkehrsbehörde im Sinne einer Ermessensreduzierung auf Null in einen gebundenen Anspruch auf ein Einschreiten (VG Oldenburg, Urt. v. 13.06.2014 – 7 A 7110/13 –, juris Rn. 90, 97 zum Anspruch eines Anwohners auf Einschreiten der Straßenverkehrsbehörde; so auch bereits BVerwG, Urt. v. 04.06.1986 – 7 C 76/84 –, juris Rn. 14). Zum anderen sind auch die Wertungen der nicht unmittelbar anwendbaren Verkehrslärmschutzverordnung als Orientierungspunkte heranzuziehen. Sind Beurteilungspegel von 70 dB(A) oder mehr am Tag und 60 dB(A) oder mehr in der Nacht erreicht (§ 1 Abs. 2 Verkehrslärmschutzverordnung), liegt eine unzumutbare Lärmbelastung vor (OVG Bremen, Beschl. v. 11.02.2016 – 1 B 241/15 –, juris Rn. 18 und Beschl. v. 21.06.2010 – 1 B 68/10 –, juris Rn. 6); in diesen Fällen muss die Straßenverkehrsbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden, ob sie Lärmschutzmaßnahmen ergreift. Als Orientierungspunkte können zudem die Immissionsgrenzwerte aus § 2 Abs. 1 Verkehrslärmschutzverordnung dienen (BayVGH, Beschl. v. 06.07.2020 – 11 ZB 18.1840 –, juris Rn. 25 und Urt. v. 12.04.2016 – 11 B 15.2180 –, juris Rn. 22; OVG NRW, Urt. v. 21.01.2003 – 8 A 4230/01 –, juris Rn. 10 ff.; OVG SH, Urt. v. 09.11.2017 – 2 LB 22/13 –, juris Rn. 107 ff.; Will, in: BeckOK StVR, 11. Ed. 15.04.2021, StVO § 45 Rn. 81). Danach ist zum Schutz der Nachbarschaft vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Verkehrsgeräusche beim Bau oder wesentlicher Änderung von Straßen sicherzustellen, dass in Mischgebieten 64 dB(A) am Tag und 54 dB(A) in der Nacht nicht überschritten werden. Diese Immissionsgrenzwerte bringen ganz allgemein die Wertung des Normgebers zum Ausdruck, von welcher Schwelle an eine nicht mehr hinzunehmende Beeinträchtigung der jeweiligen Gebietsfunktion, zumindest auch dem Wohnen zu dienen, anzunehmen ist. Eine Unterschreitung dieser Immissionsgrenzwerte aus § 2 Abs. 1 Verkehrslärmschutzverordnung ist danach jedenfalls ein Indiz dafür, dass die Lärmbelastung auch die Zumutbarkeitsschwelle in straßenverkehrsrechtlicher Hinsicht nicht erreicht (BayVGH, Urt. v. 12.04.2016 – 11 B 15.2180 –, juris Rn. 22 und Urt. v. 21.03.2012 – 11 B 10.1657 – juris Rn. 28; OVG SH, Urt. v. 09.11.2017 – 2 LB 22/13 –, juris Rn. 107). Sind die Richtwerte aus § 2 Abs. 1 Verkehrslärmschutzverordnung hingegen überschritten, ist das Ermessen der Straßenverkehrsbehörde eröffnet. Es ist danach nicht erforderlich, dass die höheren, nach Nr. 2.1 Lärmschutz-Richtlinien-StV für eine Lärmsanierung an bestehenden Straßen maßgebenden Werte erreicht werden (BayVGH, Beschl. v. 06.07.2020 – 11 ZB 18.1840 –, juris Rn. 25). Eine Orientierung an den Lärmwerten des § 2 Abs. 1 Verkehrslärmschutzverordnung ist jedoch nur dann aussagekräftig, wenn zur Ermittlung der Lärmbelastung das nach dieser Verordnung vorgesehene Berechnungsverfahren angewendet wurde (OVG SH, Urt. v. 09.11.2017 – 2 LB 22/13 –, juris Rn. 107).


b) Ausgehend davon steht aufgrund der schalltechnischen Berechnung vom 27.10.2016 zur Überzeugung der Kammer fest, dass eine unzumutbare Lärmbelastung der Anwohner des streitgegenständlichen Streckenabschnitts gegeben ist.

Für den hier allein maßgeblichen Zeitraum zwischen 6.00 Uhr und 20.00 Uhr liegen die Beurteilungspegel bei einer erlaubten Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h zwischen 69 und 72 dB(A). Damit ist der als Orientierung dienende Immissionsgrenzwert aus § 2 Abs. 1 Verkehrslärmschutzverordnung (64 dB(A) am Tag) deutlich überschritten. Die schalltechnische Berechnung vom 27.10.2016 stellt eine taugliche Tatsachengrundlage zur Bestimmung der Lärmbelastung der Anwohner der „Alten Bürger“ dar. Die Einwände des Klägers gegen die Validität dieser Berechnung greifen nicht durch.

aa) Es bedarf keiner Aufklärung, ob sich der südwestliche Streckenabschnitt zwischen Schleusenstraße und Bürgermeister-Martin-Donandt-Platz im Geltungsbereich des Bebauungsplans 250 befindet. Denn für die Frage, welche Baugebietsart für die Richtwerte heranzuziehen ist, kommt es nach Nr. 2.1 Lärmschutz-Richtlinien-StV entweder darauf an, ob ein entsprechender Bebauungsplan vorliegt oder ob es sich entsprechend der tatsächlichen Nutzung um eine Baugebietsart der BauNVO handelt. Auch der Kläger weist darauf hin, dass es sich bei der „Alten Bürger“ der tatsächlichen Nutzung nach um ein Mischgebiet handelt.

bb) Der Aussagekraft der schalltechnischen Berechnung vom 27.10.2016 steht nicht entgegen, dass ihr zwei Immissionsorte (Bürgermeister-Smidt-Straße 143 und 188) zugrunde gelegt wurden, die sich in einem Abstand von weniger als 40 Metern zu einer Lichtsignalanlage befinden und dort nach Ziffer 4.2 RLS-90 ein Zuschlag von 3 dB(A) zu berücksichtigen ist. Unschädlich ist auch, dass für den streitgegenständlichen Streckenabschnitt keine Abschnittsbildung mit separater Berechnung des Verkehrslärms vorgenommen wurde.

Der im Termin zur mündlichen Verhandlung vernommene Zeuge, der die schalltechnische Berechnung erstellt hat, hat nachvollziehbar und anschaulich erläutert, weshalb auf eine Abschnittsbildung verzichtet wurde und dass eine Zugrundelegung anderer Immissionsorte im Streckenabschnitt zu keinen anderen Berechnungsergebnissen geführt hätte. Er gab an, dass in dem streitgegenständlichen Streckenabschnitt eine homogene Bebauung mit gleichmäßiger Straßenbreite vorhanden sei und daher einheitliche Bedingungen vorlägen. Die gewählten Immissionsorte lägen in der Mitte des Streckenabschnitts und seien aus Gründen der Praktikabilität gewählt worden; es habe kurz zuvor Planungen für Piktogramme für den Fahrradverkehr gegeben, sodass dort bereits die Querschnittsbreite ermittelt worden sei. Unter Zugrundelegung der Vorgaben der Lärmschutz-Richtlinien-StV und der RLS-90 sowie der Erläuterung durch den Zeugen erschließt sich der Kammer ohne Zweifel, dass die Wahl des Immissionsortes für die Berechnung der dB(A)-Werte zwar insoweit von Relevanz war, ob dort die in Tabelle 2 zu Ziffer 4.2 RLS-90 genannten Zuschläge von 1 bis 3 dB(A) zu berücksichtigen sind. Da die schalltechnische Berechnung aber auch eine Aussage zu den weiteren Bereichen des Streckenabschnitts trifft, in denen der Zuschlag nicht zu berücksichtigen ist, macht es im Ergebnis der schalltechnischen Berechnung keinen Unterschied, ob Immissionsorte gewählt werden, die sich nicht im Nahbereich einer Lichtsignalanlage befinden, für die Bereiche im Nahbereich einer Lichtsignalanlage dann aber die Zuschläge zwischen 1 und 3 dB(A) berücksichtigt werden oder ob umgekehrt verfahren wird. Aus Nr. 2.1 Lärmschutz-Richtlinien-StV ergibt sich, dass gerade keine örtlichen Schallmessungen vorgenommen werden. Für die Berechnung des Beurteilungspegels wird vielmehr das physikalisch-mathematische Berechnungsverfahren der RLS-90 verwendet, das unabhängig von gegebenenfalls variierenden Schallemissions- und Schallausbreitungsbedingungen ist. Die schalltechnische Berechnung berücksichtigt, dass nur teilweise Zuschläge für den Nahbereich der Lichtsignalanlage zugrunde zu legen sind, und macht deutlich, dass der Beurteilungspegel im untersuchten Streckenabschnitt am Tag zwischen 69 und 72 dB(A) liegt. Dem beigefügten Übersichtsplan lässt sich zudem anhand der eingezeichneten Radien entnehmen, für welche Gebäude ein verringerter Beurteilungspegel anzunehmen ist.

cc) Auch der Einwand des Klägers, die schalltechnische Berechnung habe nicht berücksichtigt, dass die Lichtsignalanlage in der Nähe der Immissionsorte zwischen 21.00 Uhr und 6.00 Uhr abgeschaltet wird, führt im Ergebnis nicht dazu, dass die schalltechnische Berechnung vom 27.10.2016 zur Ermittlung der Lärmbelastung nicht herangezogen werden konnte.

Die Kammer ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und Würdigung der vorgelegten ergänzenden Unterlagen zur schalltechnischen Berechnung vom 27.10.2016 davon überzeugt, dass das Abschalten der Lichtsignalanlage ab 21.00 Uhr der Berechnung grundsätzlich zugrunde gelegt wurde. Dies ergibt sich nicht nur aus der schalltechnischen Berechnung selbst (Ziffer 3.3: „Für die Nachtzeit wird aufgrund der Abschaltung der Lichtsignalanlage kein solcher Zuschlag berücksichtigt.“), sondern auch aus der vorgelegten Excel-Tabelle, die in den Zeilen 130 ff. eine Berechnung des nächtlichen Beurteilungspegels „ohne LSA“ (d.h. ohne Lichtsignalanlage) vornimmt.

Der Validität der schalltechnischen Berechnung vom 27.10.2016 steht auch nicht entgegen, dass das Abschalten der Lichtsignalanlage bereits um 21.00 Uhr erfolgt, als Nachtzeit aber der Zeitraum von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr gilt (vgl. Nr. 2.1 Lärmschutz- Richtlinien-StV), und der Zeuge auf Befragen des Gerichts angab, dass an den Immissionsorten für die gesamte Tageszeit ein Zuschlag aufgrund der Lichtsignalanlage berücksichtigt worden sei. Es sei gängige Praxis, dass lediglich zwischen der Tages- und Nachtzeit unterschieden werde. Der Zeuge hat die Vorgaben der RLS-90 durch dieses Vorgehen bei der Berechnung nicht missachtet, da diese nicht vorschreiben, dass die erhöhte Störwirkung von Lichtsignalanlagen nur zugrunde zu legen ist, wenn die Lichtsignalanlage im gesamten Tages- oder Nachtzeitraum eingeschaltet ist. Vorliegend wirkt sich die eine Stunde, in der ein Zuschlag bei isolierter Betrachtung nicht zu berücksichtigen wäre (21.00 Uhr bis 22.00 Uhr), zudem evident nur marginal auf das Ergebnis der Berechnung aus. Die Immissionsrichtwerte aus § 2 Abs. 1 Verkehrslärmschutzverordnung werden vorliegend erheblich überschritten. Bei dem hier gegebenen Anteil von Zeiten, in denen die Lichtsignalanlage zur Tageszeit eingeschaltet ist (15 von 16 Stunden der Tageszeit), ist ein Absinken auf einen Beurteilungspegel unterhalb dieses Orientierungswerts ausgeschlossen. Danach bedarf es keiner Entscheidung, ob die Berücksichtigung des Zuschlags bei einem höheren oder gar überwiegenden Anteil des Zeitraumes mit abgeschalteter Lichtsignalanlage den Vorgaben der RLS-90 entspricht.

dd) Der schalltechnischen Berechnung wurden auch nicht zu viele Kraftfahrzeuge des sogenannten Schwerverkehrs zugrunde gelegt, wodurch zu hohe Beurteilungspegel entstanden wären.

Entgegen der Auffassung des Klägers ist die Anzahl des der schalltechnischen Berechnung zugrunde gelegten Schwerverkehrs mit dem geltenden Durchfahrtsverbot für Kraftfahrzeuge über 3,5 t in Einklang zu bringen. Die schalltechnische Berechnung geht am Tag von stündlich 415 Kraftfahrzeugen aus mit einem LKW-Anteil über 2,8 t von 3,2 %. Dies sind in absoluten Zahlen 213 Kraftfahrzeuge über 2,8 t (16 Tagesstunden x 415 Kraftfahrzeuge = 6.640 Kraftfahrzeuge x 3,2 %). Für die Nachtzeit wird von stündlich 110 Kraftfahrzeugen ausgegangen mit einem LKW-Anteil über 2,8 t von 2,4 %; dies entspricht in absoluten Zahlen 22 Kraftfahrzeugen über 2,8 t. Der Kläger übersieht zum einen, dass in dem Streckenabschnitt täglich 197 Busse verkehren, die als Kraftfahrzeuge über 2,8 t berücksichtigt wurden und vom Durchfahrtsverbot nicht erfasst sind. Es verbleiben danach über 24 Stunden verteilt lediglich 38 Schwerverkehre, die keine Busse sind. Diese Anzahl ist dadurch erklärlich, dass der Lieferverkehr von dem Durchfahrtsverbot ausgenommen ist und im Rahmen der Verkehrszählung im Jahre 2013, die die Differenzierung zwischen PKW und Schwerverkehr anhand der Länge der Kraftfahrzeuge vornahm, Kraftfahrzeuge erfasst wurden, die übereinstimmend mit Ziffer 4.4.1.1.1 RLS-90 als Schwerverkehr zugrunde zu legen sind, da sie ein zulässiges Gesamtgewicht über 2,8 t haben, die aber, soweit sie unter 3,5 t bleiben, nicht vom Durchfahrtsverbot erfasst sind.

Nach den Angaben des Zeugen in der mündlichen Verhandlung ist zudem davon auszugehen, dass die gewählte Methodik der Verkehrszählung zur Folge haben kann, dass der schalltechnischen Berechnung zu wenig Schwerverkehr zugrunde gelegt wird. Aufgrund der Verkehrsaufkommenermittlung anhand der Länge der Kraftfahrzeuge werden nach der anschaulichen Erläuterung des Zeugen Kraftfahrzeuge zwischen 2,8 t und 3,5 t teilweise als PKW erfasst, obwohl sie nach Ziffer 4.4.1.1.1 RLS-90 als Schwerverkehr gelten. Die Kammer ist davon überzeugt, dass die Ungenauigkeit, die dieser Methodik der Verkehrserhebung immanent ist, jedenfalls nicht zu höheren Beurteilungspegeln führt als bei exakter Erfassung der Kraftfahrzeuge anhand des zulässigen Gesamtgewichts.

Die ergänzende Verkehrszählung vom 10.04.2018 bis zum 13.04.2018 entkräftet zudem die Vermutung des Klägers, dass aufgrund des nunmehr geltenden beidseitigen Durchfahrtsverbots für Kraftfahrzeuge über 3,5 t von weniger Schwerverkehr im Vergleich zur Verkehrserhebung im Jahre 2013 auszugehen sei. Angesichts der in diesem Rahmen erfassten 253 (11.04.2018) bzw. 282 (12.04.2018) Schwerverkehren binnen 24 Stunden, von denen ebenfalls jeweils 197 Kraftfahrzeuge auf den öffentlichen Personennahverkehr entfallen, bilden die Verkehrsdaten aus 2013 weiterhin eine taugliche Datengrundlage für die Bildung der durchschnittlichen täglichen Verkehrsstärke; der zu berücksichtigende Schwerverkehr hat sich ausweislich des Ergebnisses der ergänzenden Verkehrszählung sogar erhöht. Auch der Einwand, aufgrund einer zweitägigen Verkehrszählung könne keine valide Datengrundlage ermittelt werden, verfängt nicht. Der schalltechnischen Berechnung vom 27.10.2016 wurden die Verkehrszahlen einer achttägigen Verkehrszählung im Juni 2013 zugrunde gelegt; die Verkehrszählung im April 2018, die lediglich am 11.04.2018 und 12.04.2018 über 24 Stunden erfolgte, diente allein der Plausibilisierung des zugrunde gelegten Schwerverkehrs. Die Ermittlung der durchschnittlichen täglichen Verkehrsstärke anhand einer achttägigen Verkehrszählung begegnet keinen Rechtsfehlern, da in diesem Zeitraum ein repräsentatives Verkehrsaufkommen ermittelt wurde.

ee) Die Kammer ist auch nicht zu der Überzeugung gelangt, dass die Änderungen nach der ersten Version der schalltechnischen Berechnung vorgenommen wurden, um – entgegen einer tatsächlichen Grundlage – jedenfalls an den Immissionsorten die Richtwerte aus Nr. 2.1 Lärmschutz-Richtlinien-StV zu erreichen. Aus der vom Kläger in Bezug genommenen Mail des Zeugen vom 27.10.2016 ergibt sich vielmehr, dass aus der Zugrundelegung eines etwas höheren Immissionsortes sogar „geringfügig niedrigere Pegel“ resultieren. Dies hat der Zeuge in der mündlichen Verhandlung bestätigt. Die „Berücksichtigung der tatsächlichen Gebäudehöhen“ führt am Immissionsort – dies lässt sich dem Abgleich der Übersicht zu den Berechnungsunterlagen der ersten und zweiten Version entnehmen – hingegen aufgrund eines erhöhten Zuschlags für Mehrfachreflexionen zu einem um 1 dB(A) höheren Beurteilungspegel am Tag bei erlaubten 50 km/h (71 dB(A) in der ersten Version, 72 dB(A) in der zweiten Version). Es ist nicht ersichtlich, dass die zugrunde gelegten Gebäudehöhen nicht den tatsächlichen Gegebenheiten im streitgegenständlichen Streckenabschnitt entsprechen. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Änderungen auf Bitten der Straßenverkehrsbehörde vorgenommen und vom Zeugen ungeprüft übernommen und der Berechnung zugrunde gelegt wurden.

ff) Losgelöst von den Einwänden des Klägers lassen die vorgelegten Unterlagen zur Berechnung des Beurteilungspegels keine fehlerhafte Anwendung der Vorgaben der RLS-90 erkennen. Die eingereichte Excel-Tabelle, die die einzelnen Berechnungsschritte darstellt, enthält die Angabe der nach Abschnitt 4 der RLS-90 maßgeblichen Berechnungsformeln.

c) Die Anordnung der Geschwindigkeitsbeschränkung zwischen 6.00 Uhr und 20.00 Uhr ist auch zwingend erforderlich im Sinne des § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO. Es besteht zudem eine Gefahrenlage, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der genannten Rechtsgüter, d.h. hier der Schutz der Wohnbevölkerung vor Verkehrslärm, erheblich übersteigt, § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO.

Zwingend erforderlich im Sinne der § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO ist die Anordnung einer verkehrsregelnden Maßnahme unter Berücksichtigung des Regelungszwecks und des Wortlauts der Vorschrift nur dann, wenn sie die zur Gefahrenabwehr unbedingt erforderliche und allein in Betracht kommende Maßnahme ist. Das ist nicht der Fall, wenn die allgemeinen und besonderen Verhaltensregeln der StVO mit hinreichender Wahrscheinlichkeit einen sicheren und geordneten Verkehrsablauf gewährleisten (vgl. BayVGH, Beschl. v. 25.07.2011 – 11 B 11.921 –, juris Rn. 28 zur alten Fassung des § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO [„zwingend geboten“]; Will, in: BeckOK StVR, 11. Ed. 15.04.2021, StVO § 45 Rn. 374). § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO modifiziert den Gefahrenbegriff aus § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO in zweifacher Hinsicht, indem die Gefahrenlage (1.) auf besondere örtliche Verhältnisse zurückzuführen sein muss und sie (2.) das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der relevanten Rechtsgüter erheblich übersteigen muss. Die Anforderungen an die Voraussetzungen der Sätze 1und 3 dürfen nicht überspannt werden (Koehl, in: Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 2. Aufl. 2017, § 45 StVO, Rn. 45). Das Erfordernis der besonderen örtlichen Verhältnisse dürfte in erster Linie für straßenverkehrsrechtliche Anordnungen von Relevanz sein, mit denen Unfallgefahren begegnet werden sollen. Die in § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO genannten Voraussetzungen stellen Tatbestandsmerkmale dar, die das zwingende Erfordernis im Sinne des § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO konkretisieren, obwohl die Verordnungsbegründung darauf hindeutet, dass es dem Verordnungsgeber darum ging, dass das ohnehin geltende Übermaßverbot strikt angewendet wird (vgl. Will, in: BeckOK StVR, 11. Ed. 15.04.2021, StVO § 45 Rn. 380 m.w.N.).Bei Überschreitung der Richtwerte aus § 2 Abs. 1 Verkehrslärmschutzverordnung sind – wie bereits ausgeführt – die genannten tatbestandlichen Voraussetzungen für ein Tätigwerden der Straßenverkehrsbehörde erfüllt (vgl. VG Oldenburg, Urt. v. 13.06.2014 – 7 A 7110/13 –, juris Rn. 90).

3. Die straßenverkehrsrechtliche Anordnung ist auch ermessensfehlerfrei ergangen.

a) Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen für ein Einschreiten nach § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, Abs. 9 StVO – wie hier – vor, ist die Anordnung von Lärmschutzmaßnahmen, die den fließenden Verkehr betreffen, in das pflichtgemäße Ermessen der Straßenverkehrsbehörde gestellt. Diese hat nicht nur auf die Schutzwürdigkeit der Anlieger abzustellen, sie muss vielmehr auch die Belange des Straßenverkehrs und der Verkehrsteilnehmer würdigen. Dabei sind auch, aber nicht nur die Interessen anderer Anlieger in Rechnung zu stellen, die als Folge einer Verlagerung des Verkehrs durch Lärm belastet würden. Zwar müssen bei erheblichen Lärmbeeinträchtigungen die Belange, die der Anordnung verkehrsbeschränkender Maßnahmen entgegenstehen, von einigem Gewicht sein, wenn mit Rücksicht auf diese Belange ein Handeln der Behörde unterbleiben soll. Auch bei erheblichen Lärmbeeinträchtigungen hat die Behörde aber abzuwägen, ob sie mit Rücksicht auf die damit verbundenen Nachteile von verkehrsbeschränkenden Maßnahmen absehen oder weniger einschneidende Maßnahmen ergreifen will (OVG Bremen, Beschl. v. 21.06.2010 – 1 B 68/10 –, juris Rn. 8). Da die Richtwerte aus Nr. 2.1 Lärmschutz-Richtlinie-StV am Tag – wie dargelegt – lediglich für einen Teil des Streckenabschnitts erreicht, aber nicht überschritten werden, war das Ermessen der Straßenverkehrsbehörde nicht auf Null reduziert.

b) Ermessensfehler sind vorliegend nicht ersichtlich.

aa) Ein Ermessensausfall liegt nicht vor. Entgegen der Auffassung des Klägers enthält bereits die straßenverkehrsrechtliche Anordnung vom 01.12.2015 (Seite 6 des nicht paginierten Verwaltungsvorgangs) Ermessenserwägungen, die in der vorangegangenen Begründung vom 16.11.2015 zur Geschwindigkeitsbeschränkung (Seite 5 des Verwaltungsvorgangs) niedergelegt sind. Seite 1 des Verwaltungsvorgangs, auf die der Kläger abstellt, ist lediglich eine Kopie des Antrages zweier Fraktionen der Stadtverordnetenversammlung für den Ausschuss für öffentliche Sicherheit, der für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides ohne Belang ist. Zudem wäre ein etwaiger Ermessensausfall der Ausgangsbehörde durch das Widerspruchsverfahren geheilt worden. Gegenstand der Anfechtungsklage ist der Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat, § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO. Der Widerspruchsbescheid vom 19.07.2018 enthält Ermessenserwägungen.




bb) Es begegnet auch keinen Rechtsfehlern, dass die Straßenverkehrsbehörde in der Begründung der straßenverkehrsrechtlichen Anordnung vom 01.12.2015 noch maßgeblich auf die Stärkung der Aufenthaltsfunktion und die Verhinderung von Verkehrsgefährdungen und erst später – wie auch die Widerspruchsbehörde – auf Lärmschutzaspekte abgestellt hat. Denn die Widerspruchsbehörde ist wegen des Devolutiveffektes und der ihr insoweit zustehenden vollen Entscheidungskompetenz auch befugt, den Bescheid auf andere rechtliche Begründungen zu stützen als die Ausgangsbehörde. Die Entscheidungskompetenz der Widerspruchsbehörde ist lediglich durch den Rahmen beschränkt, den der Widerspruch eröffnet hat, mit der Folge, dass sie keine rechtlich selbstständige Regelung treffen darf, die über den Inhalt des angefochtenen Verwaltungsaktes hinausgeht; sie darf keinen neuen Verwaltungsakt erlassen (siehe dazu VG Gießen, Urt. v. 25.04.2012 – 8 K 3258/11.GI –, juris Rn. 46 m.w.N.; Rennert, in: Eyermann, 15. Aufl. 2019, VwGO § 68 Rn. 16; Dolde/Porsch, in: Schoch/Schneider, 39. EL Juli 2020, VwGO § 68 Rn. 36). Vorliegend hat die Widerspruchsbehörde keine rechtlich selbstständige Regelung getroffen, sondern die straßenverkehrsrechtliche Anordnung zusätzlich zum Aspekt der Sicherheit der Gäste der Außengastronomie und der Stärkung der Aufenthaltsfunktion auf die Verringerung der Lärmbelastung gestützt. Der angegriffene Verwaltungsakt blieb seinem Regelungsgehalt nach (Beschränkung der erlaubten Geschwindigkeit in dem streitgegenständlichen Streckenabschnitt) unverändert. Der Austausch der Befugnisnorm – ursprünglich wohl § 45 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 9 StVO, später § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i.V.m. Abs. 9 StVO – erfolgte zudem bereits durch die Straßenverkehrsbehörde.

cc) Auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wurde gewahrt.

Die straßenverkehrsrechtliche Anordnung verfolgt mit dem Schutz vor übermäßigem Verkehrslärm einen legitimen Zweck und ist geeignet, zu einer signifikanten Verringerung des Verkehrslärms beizutragen. Ausweislich der schalltechnischen Berechnung ist von einer Pegeldifferenz von 2,4 dB(A) auszugehen, die gemäß Nr. 2.3 Lärmschutz-Richtlinien- StV auf 3 dB(A) aufzurunden ist. Durch die Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h auch zwischen 6.00 Uhr und 20.00 Uhr wird der Beurteilungspegel für den unmittelbaren Nahbereich der Lichtsignalanlage unter den Richtwert aus Nr. 2.1 Lärmschutz-Richtlinien- StV abgesenkt und auch in den übrigen Streckenabschnitten um 3 dB(A) gemindert. Auch aus Nr. 2.3 Lärmschutz-Richtlinien-StV ergibt sich, dass bei einer solchen Pegelreduzierung von der Geeignetheit der Maßnahme auszugehen ist. Der Geeignetheit steht nicht entgegen, dass die Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h nicht zur Folge hat, dass dadurch die Richtwerte aus § 2 Abs. 1 Verkehrslärmschutzverordnung für Mischgebiete unterschritten werden. Denn auch eine Maßnahme, die zwar nicht zur Beseitigung einer unzumutbaren Lärmbelastung, d.h. zur Unterschreitung des maßgeblichen Beurteilungspegels führt, den vorhandenen Pegel aber gleichwohl spürbar vermindert, kann die Anordnung einer verkehrsregelnden Maßnahme rechtfertigen (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 21.06.2010 – 1 B 68/10 –, juris Rn. 19).



Eine weiterhin lediglich zwischen 20.00 Uhr und 6.00 Uhr geltende Geschwindigkeitsbeschränkung wäre zwar ein milderes, aber kein gleich geeignetes Mittel, da eine Beibehaltung der bisherigen Geschwindigkeitsbeschränkung die Lärmbelastung am Tag nicht reduzieren würde. Auch die Anordnung einer Geschwindigkeitsbeschränkung nur im Nahbereich der Lichtsignalanlage, d.h. dort, wo die höchsten Beurteilungspegel errechnet wurden, wäre keine gleich effektive Maßnahme zum Schutz vor Verkehrslärm im streitgegenständlichen Streckenabschnitt. Zum einen werden die Richtwerte aus § 2 Abs. 1 Verkehrslärmschutzverordnung im gesamten Streckenabschnitt signifikant überschritten. Zum anderen hätte eine Geschwindigkeitsbeschränkung lediglich auf einem kurzen Teilstück des Streckenabschnitts zur Folge, dass Beschleunigungen sowie Abbremsungen kurz vor bzw. nach dem entsprechenden Teilstück zu erwarten sind, was wiederum zu höheren Lärmemissionen führen würde.

Die straßenverkehrsrechtliche Anordnung ist auch angemessen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Kläger im Rahmen der behördlichen Ermessensausübung nur verlangen kann, dass seine eigenen Interessen ohne Rechtsfehler mit den Interessen der Allgemeinheit und anderer Betroffener, die für die Einführung der Verkehrsbeschränkung sprechen, abgewogen werden (BVerwG, Urt. v. 27.01.1993 – 11 C 35/92 –, juris Rn. 14). Der Kläger hat keine individuellen Gründe vorgetragen, die gegen die nunmehr ganztägige Geschwindigkeitsbeschränkung sprechen. Daher sind die alle Teilnehmer des fließenden Verkehrs betreffenden Interessen heranzuziehen. Die Beklagte hat rechtsfehlerfrei festgestellt, dass diese nicht in unzumutbarer Weise berührt sind. Sie hat darauf abgestellt, dass es Verkehrsteilnehmern, die den streitgegenständlichen Bereich lediglich durchqueren wollen, zuzumuten ist, die parallel gelegene Barkhausenstraße zu nutzen, die in einem Gewerbegebiet liegt und mit 50 km/h befahren werden darf. Nicht zu beanstanden ist zudem die Ermessenserwägung, dass sich der streitgegenständliche Streckenabschnitt lediglich über 400 Meter und damit auf einen vergleichsweise kurzen Abschnitt erstreckt.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 ZPO.

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