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Amtsgericht Eilenburg Urteil vom 30.09.2021 - 8 OWi 956 Js 12381/21 - Umgang mit Geschwindigkeitsverstößen, die mit dem Geschwindigkeitsüberwachungsgerät LEIVTEC XV3 festgestellt wurden

AG Eilenburg v. 30.09.2021: Umgang mit Geschwindigkeitsverstößen, die mit dem Geschwindigkeitsüberwachungsgerät LEIVTEC XV3 festgestellt wurden




Das Amtsgericht Eilenburg (Urteil vom 30.09.2021 - 8 OWi 956 Js 12381/21) hat entschieden:

  1.  Bei Geschwindigkeitsmessungen mit dem hier zum Einsatz gekommenen Messgerät LEIVTEC XV3 kann auch nach der abschließenden Stellungnahme der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt vom 09.06.2021 nicht mehr von einem standardisierten Messverfahren ausgegangen werden kann.

  2.  Soweit (insbesondere voreintragungsfreie) Betroffene in derartigen Fällen mit einer Einspruchsbeschränkung auf die Rechtsfolgen Schuldeinsicht zeigen und hiermit das andernfalls erforderliche Sachverständigengutachten nicht zum Tragen lassen kommen, ist es sachgerecht, sie in "Fahrverbotsfällen" nicht mit der Regelfahrverbotsanordnung zu überziehen, sondern es als verkehrserzieherisch ausreichend zu erachten, die ohne Fahrverbot als tat- und schuldangemessen anzusehende Geldbuße angemessen zu erhöhen.


Siehe auch
Das Messgerät Leivtec
und
Absehen vom Fahrverbot

Gründe:


I.

Der am ... 1971 geborene Betroffene ist verheiratet und verfügt über zwei Kinder, denen er zum Unterhalt verpflichtet ist. In beruflicher Hinsicht ist er angestellter Bereichsleiter im Anlagenbau für Heizung/Sanitär- und Haustechnik, der nach eigenen Angaben in geordneten wirtschaftlichen Verhältnissen lebt.

Mit der Begehung von straßenverkehrsrechtlichen Ordnungswidrigkeiten ist er bislang nicht in Erscheinung getreten.

II.

Der Betroffene befuhr am 19.05.2020 um 17:05 Uhr mit dem PKW Ford, amtliches Kennzeichen pp., die innerorts gelegene E.pp. Straße in T. in Höhe A.pp.weg in Fahrtrichtung G.pp.straße mit einer Geschwindigkeit (nach Toleranzabzug) von 76 km/h, obwohl, wie er bei gehöriger und zumutbarer Sorgfalt hätte erkennen können und müssen, aufgrund des ordnungsgemäß angebrachten Verkehrszeichens 274 die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h begrenzt war.




III.

Die Feststellungen unter I. zu den persönlichen Verhältnissen des Betroffenen beruhen auf seinen glaubhaften Angaben und dem verlesenen Auszug aus dem Fahreignungsregister vom 27.09.2021.

Die Sachverhaltsfeststellungen unter II. beruhen auf der Einspruchsbeschränkung des Betroffenen auf den Rechtsfolgenausspruch.

IV.

Die fahrlässige Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 46 km/h mit einem PKW stellt eine Ordnungswidrigkeit gemäß §§ 41 Abs. 1 i. V. m. Anlage 2, 49 StVO, § 24 StVG, 11.3.7 BKat dar. Von Fahrlässigkeit ist hier auch auszugehen, obwohl der Bußgeldbescheid der Stadt T. die Schuldform nicht eindeutig erkennen lässt. Dies steht der Wirksamkeit der Einspruchsbeschränkung indessen nicht entgegen. Aus dem Umstand, dass der Regelsatz des Bußgeldkatalogs verhängt worden ist, ist vielmehr unter Ansehung von § 1 Abs. 2 BKatV zu folgern, dass dem Bußgeldbescheid die Annahme einer fahrlässigen Tatbegehung zugrunde liegt (vgl. nur OLG Bamberg, Beschl. v. 31.03.2005 - 2 Ss OWi 78/05 -, NJW 2006, 627; KG Berlin, Beschl. v. 26.08.2020 - 3 Ws [B] 163/20 -, juris).

V.

Ausweislich des bundeseinheitlichen Tatbestandskatalogs für Straßenverkehrsordnungswidrigkeiten ist für eine solche Tat bei fahrlässigem Verhalten und für einen Ersttäter der Ausspruch einer Geldbuße von 200,00 Euro (11.3.7 BKat) nebst Verhängung eines Regelfahrverbotes für die Dauer von einem Monat auf der Grundlage von § 25 Abs. 1 StVG, § 4 Abs. 1 BKatV vorgesehen. Das Gericht hat von dieser Regelfahrverbotsanordnung gemäß § 4 Abs. 4 BKatV i. V. m. § 17 Abs. 3 OWiG unter angemessener Erhöhung der hier grundsätzlich als tat- und schuldangemessen erachteten Regelgeldbuße von 200,00 Euro auf eine Geldbuße in Höhe von 400,00 Euro bei Beachtung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen abgesehen. Dem liegen folgende Erwägungen zugrunde:




Im Ausgangspunkt verkennt das Gericht nicht, dass soweit - wie hier - die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 BKatV vorliegen, unter denen ein Fahrverbot als regelmäßige Denkzettel- und Erziehungsmaßnahme angeordnet werden soll, grundsätzlich von einer groben Pflichtverletzung des betroffenen Kraftfahrers im Sinne des § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG auszugehen ist. Die Gerichte haben diese Vorbewertung des Verordnungsgebers zu beachten. Diese Bindung der Sanktionspraxis dient der Gleichbehandlung der Verkehrsteilnehmer und der Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit der durch bestimmte Verkehrsverstöße ausgelösten Rechtsfolgen. Der Tatrichter ist in diesen Fällen gehalten, ein Fahrverbot anzuordnen. Ein Absehen von der Anordnung eines Fahrverbots wegen Wegfalls des Erfolgs- oder Handlungsunwerts kommt nur dann in Betracht, wenn entweder besondere Ausnahmeumstände in der Tat (z. B. atypischer Rotlichtverstoß wegen Ausschlusses einer Gefahrenlage) oder in der Persönlichkeit des Betroffenen (z. B. Augenblicksversagen beim Rotlichtverstoß) offensichtlich gegeben sind und deshalb erkennbar nicht der von § 4 BKatV erfasste Normalfall vorliegt (vgl. nur KG Berlin, Beschl. v. 02.08.2018 - 3 Ws [B] 202/18 -, juris).

Unabhängig davon ist in der Rechtsprechung ergänzend anerkannt (vgl. nur OLG Dresden, Beschl. v. 11.03.2019 - OLG 23 Ss 80/19 [B] -, juris), dass das Fahrverbot nach § 25 StVG nach der gesetzgeberischen Intention in erster Linie eine Erziehungsfunktion hat. Es ist als Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme gedacht und ausgeformt. Von ihm soll eine warnende Wirkung auf den Betroffenen ausgehen und ihn anhalten, sich künftig verkehrsordnungsgemäß zu verhalten. Das Fahrverbot kann deshalb u. a. seinen Sinn verlieren, wenn die zu ahndende Tat lange zurückliegt, die für die lange Verfahrensdauer maßgeblichen Umstände auch außerhalb des Einflussbereiches des Betroffenen liegen und in der Zwischenzeit kein weiteres Fehlverhalten des Betroffenen im Straßenverkehr festgestellt worden ist.

Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs ist zur Überzeugung des Gerichts davon auszugehen, dass allein die erhöhte Geldbuße ausreichen wird, den Betroffenen zu veranlassen, sein Verkehrsverhalten in Zukunft zu verändern und Geschwindigkeitsbeschränkungen genauer zu beachten. Der festgestellte Geschwindigkeitsverstoß liegt über ein Jahr und vier Monate zurück und der Betroffene ist weder zuvor noch danach straßenverkehrsrechtlich in Erscheinung getreten. Als vordringlicher Grund zum Absehen vom Regelfahrverbot wirkt sich hier zugunsten des Betroffenen aus, dass er seinen Einspruch auf die Rechtsfolgen beschränkt hat, dem nach Auffassung des Gerichts nicht nur Geständnisfiktion und Schuldeinsicht zukommt (vgl. nur OLG Stuttgart, Beschl. v. 30.01.2006 - 1 Ss 5/06 -, BeckRS 2006, 1865 zur Rechtsfolgenbeschränkung im Strafbefehlsverfahren).


Vielmehr schließen sich im vorliegenden Fall an eine Beschränkung des Einspruchs auf die Rechtsfolgen durchgreifende verfahrensökonomische Erwägungen an. Denn ein Tatnachweis wäre anderenfalls allenfalls durch die Einholung eines kosten- und zeitintensiven Sachverständigengutachtens zu führen gewesen, da bei Geschwindigkeitsmessungen mit dem hier zum Einsatz gekommenen Messgerät LEIVTEC XV3 nicht mehr von einem standardisierten Messverfahren ausgegangen werden kann.

Das Gericht schließt sich insoweit den Entscheidungen des Bayrischen Obersten Landgerichts (Beschl. v. 12.08.2021 - 202 ObOWi 880/21 -, juris) sowie der Oberlandesgerichte Stuttgart (Beschl. v. 10.06.2021 - 6 Rb 26 Ss 133/21 -, BeckRs 2021, 14050), Celle (Beschl. v. 18.06.2021 - 2 Ss [OWi] 69/21 -, juris), Oldenburg (Beschl. v. 19.07.2021 - 2 Ss [OWi] 170/21 und Beschl. v. 26.08.2021 - 2 Ss [OWi] 199/21 -, beide juris) und Hamm (Beschl. v. 16.09.2021 - III-1 Rbs 115/21 -, BeckRS 2021, 28656) an. Das Messgerät bietet nach den Erkenntnissen der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (vgl. Abschlussstand im Zusammenhang mit unzulässigen Messwertabweichungen beim Geschwindigkeitsüberwachungsgerät LEIVTEC XV3 [Stand: 09.06.2021/Physikalisch-Technische Bundesanstalt, Braunschweig und Berlin - DOI: 10.7795/520.20210609]) nicht mehr die Gewähr dafür, dass es bei Beachtung der Vorgaben für seine Bedienung zu hinreichend zuverlässigen Messergebnissen kommt. Vielmehr haben die Überprüfungen durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) ergeben, dass es bei Geschwindigkeitsmessungen mit dem Messgerät zu unzulässigen Messwertabweichungen auch zu Ungunsten Betroffener u. a. wegen des Auftretens sog. Stufenprofil-Fehlmessungen (vgl. hierzu näher Kugele/Gut/Hähnle, VKU 2021 [Heft 3], 88 ff.) kommen kann und deshalb nicht länger von einem vereinheitlichten technischen Verfahren auszugehen ist, bei dem die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf derart festgelegt sind, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind. Die hiervon abweichende Entscheidung des Oberlandesgerichts Schleswig-Holstein (Beschl. v. 17.08.2021 - II OLG 26/21 -, juris) überzeugt aus den im Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 26.08.2021 genannten Gründen nicht.

Die genannten Feststellungen und Wertungen rechtfertigen nach Auffassung des Gerichts jedenfalls in ihrer Gesamtschau eine Ausnahme von der Anordnung des Regelfahrverbots. Das Gericht ist sich hierbei bewusst, dass hier nicht der „klassische“ Wegfall des Erfolgs- oder Handlungsunwerts aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls in Betracht kommt. Vielmehr liegt den vorstehenden Erwägungen die Annahme zugrunde, dass die überragende Mehrzahl an Geschwindigkeitsverstößen in der Praxis, für die der Verordnungsgeber die Regelfahrverbotsanordnung vorsehen hat, mittels Geschwindigkeitsmessgeräten festgestellt werden, auf die grundsätzlich die Vorgaben eines standardisierten Messverfahrens angewendet werden können. Soweit aber wie hier mit der LEIVTEC XV3 ein Geschwindigkeitsmessgerät ubiquitär in der Praxis zum Einsatz kommt, bei dem nicht mehr von einem standardisierten Messverfahren ausgegangen werden kann, gerät die Ahndbarkeit der insgesamt hiermit festgestellten Verstöße an seine Grenzen und es bedarf aus Sicht des Gerichts im Interesse der Gleichbehandlung der sich Geschwindigkeitsüberschreitungsvorwürfen ausgesetzten Betroffenen einerseits und mit Blick auf die Ressourcen an technischen Sachverständigen sowie unter Beachtung verfahrensökonomischer Erwägungen andererseits einer folgenorientierten Abwägung. Vor diesem Hintergrund versteht sich die Rechtsprechungspraxis am hiesigen Gericht, Betroffene, die in derartigen Fällen mit ihrer Einspruchsbeschränkung auf die Rechtsfolgen Schuldeinsicht zeigen und hiermit das andernfalls erforderliche Sachverständigengutachten nicht zum Tragen lassen kommen, nicht mit der Regelfahrverbotsanordnung zu überziehen, sondern es als verkehrserzieherisch ausreichend zu erachten, die ohne Fahrverbot als tat- und schuldangemessen anzusehende Geldbuße angemessen zu erhöhen.



Angesichts dessen, dass der voreintragungsfreie Betroffene einerseits über zwei Kinder verfügt, denen er zum Unterhalt verpflichtet ist, und er anderseits in beruflicher Hinsicht angestellter Bereichsleiter im Anlagenbau für Heizung/Sanitär- und Haustechnik ist, der nach eigenen Angaben in geordneten wirtschaftlichen Verhältnissen lebt, ist es aus Sicht des Gerichts angezeigt, im Ausgangspunkt die für seine Verfehlung vorgesehene Regelgeldbuße anzusetzen und diese in Anwendung von § 4 Abs. 4 BKatV zu verdoppeln.

VI.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 465 ff. StPO i. V. m. § 46 Abs. 1 OWiG.

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