Das Verkehrslexikon

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BGH (Beschluss vom 13.10.2020 - VI ZR 63/19 - Vorlagebeschluss an den EuGH zum Gerichtsstand der unerlaubten Handlung für eine auf Schadensersatz gerichtete Klage bei arglistiger Täuschung

BGH v. 13.10.2020: Vorlagebeschluss an den EuGH zum Gerichtsstand der unerlaubten Handlung für eine auf Schadensersatz gerichtete Klage bei arglistiger Täuschung




Der BGH (Beschluss vom 13.10.2020 - VI ZR 63/19) hat entschieden:

   Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV folgende Frage zur Auslegung des Unionsrechts vorgelegt:


   Sind Art. 7 Nr. 1 Buchst. a und Nr. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. Nr. L 351 vom 20. Dezember 2012) dahin auszulegen, dass der Gerichtsstand der unerlaubten Handlung für eine auf Schadensersatz gerichtete Klage eröffnet ist, wenn der Kläger durch arglistige Täuschung zum Abschluss eines Kaufvertrages und zur Zahlung des Kaufpreises veranlasst worden ist?

Anmerkung:
Dieses Vorabentscheidungsersuchen hat der BGH durch Beschluss vom 16.02.2021 - VI ZR 63/19 - zurückgenommen, weil er die Rechtslage durch die EuGH-Endscheidung vom 24. November 2020 (C-59/19, NJW 2021, 144 - Wikingerhof/Booking.com) als geklärt ansah.


Siehe auch
Rechtsprechung zum Themenkomplex „Schummelsoftware“ - Diesel-Abgasskandal
und
Stichwörter zum Thema Autokaufrecht


Gründe:


I.

Die Klägerin macht gegen die Beklagte, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach bulgarischem Recht mit Sitz in Sofia, Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit dem Kauf eines Kraftfahrzeugs geltend. Sie stützt diese allein auf § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 263 StGB.

Der Geschäftsführer der Klägerin war am 15. Februar 2016 auf eine in einer Internetplattform eingestellte Verkaufsanzeige ("Inserat") aufmerksam geworden, in welchem das Fahrzeug wie folgt angeboten wurde:

  
"Keine Kratzer, keine Beulen, reines Schönwetterfahrzeug in makellosem Bestzustand" (...) "Technisch und optisch sehr guter Zustand, ohne Mängel (...)".

Verkäuferin des Fahrzeugs war die Beklagte. Die Klägerin nahm zunächst Kontakt mit dem Vertreter der Beklagten in Deutschland (im folgenden "P.") auf. Aufgrund eines Gesprächs mit P. überwies die Klägerin am 18. Februar 2016 den gemäß einer Rechnung vom 18. Februar 2016 ausgewiesenen Verkaufspreis von knapp 60.000 € brutto an die Beklagte. In der in englischer Sprache abgefassten Rechnung werden die Beklagte als "seller" und die Klägerin als "buyer" bezeichnet.

Sodann begab sich der der bulgarischen Sprache nicht mächtige Geschäftsführer der Klägerin vereinbarungsgemäß nach Sofia, um das Fahrzeug abzuholen. Dort fanden Gespräche statt, deren Inhalt im Einzelnen streitig ist. Unstreitig erfuhr der Geschäftsführer dort, dass das Fahrzeug in der Vergangenheit einmal gestohlen worden war. Außerdem wurde ein in bulgarischer Sprache abgefasster Kaufvertrag unterschrieben. In dem Kaufvertrag heißt es unter anderem, das Fahrzeug habe einen schweren Unfall erlitten und sei später in einer freien, der Verkäuferin nicht bekannten Werkstatt repariert worden. Die Reparatur entspreche nicht den gesetzlichen Vorschriften und es gebe dafür keine Dokumentation. Das Fahrzeug sei fahrbereit, habe aber viele technische Defekte, die der Käuferin bekannt seien.

Die Klägerin behauptet, ihr sei der Inhalt des in Bulgarien unterzeichneten Kaufvertrags nicht mitgeteilt worden. Insbesondere sei ihr nicht gesagt worden, dass es sich um einen mit technischen Mängeln behafteten Unfallwagen handele. Erst bei der Nachuntersuchung in Deutschland habe sich herausgestellt, dass unter anderem die Airbags gefehlt hätten. Sie hat das Fahrzeug für einen Kaufpreis in Höhe von 20.000 € weiterveräußert und nimmt die Beklagte auf Schadensersatz in Anspruch.

Das Landgericht hat seine internationale Zuständigkeit bejaht und die Beklagte bis auf einen geringen Teil der geltend gemachten Aufwendungen antragsgemäß verurteilt. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht das landgerichtliche Urteil abgeändert, die Klage als unzulässig abgewiesen und die Anschlussberufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der von dem Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Ansprüche weiter.





II.

Die für die Entscheidung über die Revision vor allem maßgeblichen Vorschriften des deutschen Rechts in der auf den Streitfall anwendbaren Fassung lauten:

   § 823 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)
(2) Die (...) Verpflichtung [zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens] trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Ist nach dem Inhalt des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich, so tritt die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein.

§ 263 Strafgesetzbuch (StGB)
(1) Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, daß er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhält, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

III.




Der Erfolg der Revision hängt von der Auslegung von Art..7 Nr. 1 Buchst. a und Nr..2 der Verordnung (EU) Nr..1215/2012 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 12..Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. Nr..L.351 vom 20..Dezember 2012, im Folgenden: VO.(EU).1215/2012) ab. Vor einer Entscheidung über das Rechtsmittel ist deshalb das Verfahren auszusetzen und gemäß Art..267 Abs..1.b und Abs..3 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) einzuholen.

1. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt: Für die erhobene Klage sei die internationale Zuständigkeit des angerufenen Gerichts nicht gegeben. Die Klägerin stütze ihren Anspruch allein auf Delikt. Sie mache geltend, sie sei durch das Inserat in Deutschland getäuscht worden. Dort sei auch der Schaden durch Bezahlung des Kaufpreises eingetreten. Grundlage des Schadens sei aber die Abweichung des vertraglichen Soll-Zustandes des Fahrzeugs vom Ist-Zustand. Der geltend gemachte Schadensersatzanspruch könne daher nicht losgelöst von der kaufvertraglichen Verpflichtung der Beklagten festgestellt und beurteilt werden. Knüpfe der Schaden aber an einen zugrundeliegenden Vertrag an, beurteile sich die Zuständigkeit nicht nach Art. 7 Nr. 2 VO (EU) 1215/2012, sondern nach Nummer 1 dieser Vorschrift. Danach sei die internationale Zuständigkeit der bulgarischen Gerichte gegeben. In Bulgarien habe die Beklagte ihren Geschäftssitz. Dort sei die Leistung auch bewirkt, nämlich das Fahrzeug übergeben worden.

Die Zuständigkeit gemäß Art. 7 Nr. 2 VO (EU) 1215/2012 sei selbst dann nicht gegeben, wenn aufgrund der inhaltlich unrichtigen Beschreibung des Fahrzeugs im Inserat bereits ein vollendeter Betrug in Deutschland zu bejahen wäre. Auch dann könne die Frage, ob der Klägerin überhaupt ein Schaden entstanden sei, im Hinblick auf die Verteidigung der Beklagten, dem Geschäftsführer der Klägerin sei in Bulgarien die vom Inserat abweichende Fahrzeughistorie offenbart und der Vertrag übersetzt worden, er habe aber das Fahrzeug gleichwohl entgegengenommen, nicht ohne Anknüpfung an die zivilvertragliche Rechtslage beurteilt werden.


2. Die gegen diese Entscheidung gerichtete Revision hat Erfolg, wenn das angerufene Landgericht Hannover örtlich und international zuständig ist. Dafür kommt es entscheidend darauf an, ob das Berufungsgericht den deliktischen Gerichtsstand nach Art. 7 Nr. 2 VO (EU) 1215/2012 zu Recht verneint hat. Andere Gerichtsstände sind nicht gegeben.

a) Für die Zuständigkeit nach Art. 7 Nr. 2 VO (EU) 1215/2012 kommt es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht allein darauf an, ob die betreffende Klage nach dem nationalen Recht des Mitgliedstaates deliktsrechtlicher Natur ist. Auch für eine solche Klage ist der Gerichtsstand nach Art. 7 Nr. 2 VO (EU) 1215/2012 nicht gegeben, wenn sie an einen Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag im Sinne von Art. 7 Nr. 1 Buchst. a VO (EU) 1215/2012 anknüpft. Der Begriff des Vertrags wiederum bezieht sich auf freiwillig gegenüber anderen Personen eingegangene Verpflichtungen (EuGH, Urteil vom 17. September 2002 - C-334/00, Slg. 2002, I-7357, 7393 Rn. 23 - Tacconi; Urteil vom 20. Januar 2005 - C-27/02, Slg. 2005, I-481, 517 f. Rn. 50 f. - Engler; BGH, Beschluss vom 11. Dezember 2018 - KZR 66/17, WM 2019, 1279, 1280 Rn. 19).

Die Begriffe "Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag" im Sinne von Art. 7 Nr. 1 Buchst. a VO (EU) 1215/2012 und "unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder Ansprüche aus einer solchen Handlung" im Sinne von Art. 7 Nr. 2 VO (EU) 1215/2012 sind autonom und unter Berücksichtigung der Systematik und Zielsetzung dieser Verordnung auszulegen, um ihre einheitliche Anwendung in allen Mitgliedstaaten zu sichern (EuGH, Urteil vom 27. September 1988 - Rs. 189/87, Slg. 1988, 5565, 5584 f. Rn. 15 f. - Kalfelis; Urteil vom 18. Juli 2013 - C-147/12, EuZW 2013, 703, 704 Rn. 27 - ÖFAB). Dementsprechend ist bei einer zivilrechtlichen Klage, mit der Schadensersatz begehrt wird, zu prüfen, ob die geltend gemachten Ansprüche, unabhängig von ihrer Qualifikation nach nationalem Recht, vertraglicher Natur sind (EuGH, Urteil vom 13. März 2014 - C-548/12, NJW 2014, 1648, 1649 Rn. 21 - Brogsitter; Urteil vom 10. September 2015 - C-47/14, EuZW 2015, 922, 926 Rn. 70 f. - Holterman Ferho Exploitatie; Urteil vom 14. Juli 2016 - C-196/15, NJW 2016, 3087, 3088 Rn. 20 ff. - Granarolo; BGH, Beschluss vom 11. Dezember 2018 - KZR 66/17, WM 2019, 1279, 1280 Rn. 20).

Eine vertragliche Natur der geltend gemachten Ansprüche kann zwar nicht schon deshalb angenommen werden, weil eine Vertragspartei Klage wegen zivilrechtlicher Haftung gegen die andere Vertragspartei erhebt. Auch wenn eine solche Klage nach nationalem Recht deliktsrechtlicher Natur ist, betrifft sie aber im Sinne von Art. 7 Nr. 1 Buchst. a VO (EU) 1215/2012 einen Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag, wenn das beanstandete Verhalten als Verstoß gegen die vertraglichen Pflichten angesehen werden kann, wie sie sich anhand des Vertragsgegenstands ermitteln lassen. Dies wiederum ist grundsätzlich der Fall, wenn eine Auslegung des Vertrags unerlässlich erscheint, um zu klären, ob das Verhalten, das der Kläger dem Beklagten vorwirft, rechtmäßig oder widerrechtlich ist (EuGH, Urteil vom 13. März 2014 - C-548/12, NJW 2014, 1648, 1649 Rn. 23 ff. - Brogsitter; BGH, Beschluss vom 11. Dezember 2018 - KZR 66/17, WM 2019, 1279, 1280 f. Rn. 21).

b) Im Ausgangsverfahren hat das Berufungsgericht angenommen, dass in Deutschland auf der Grundlage des Inserats ein mündlicher Kaufvertrag über das Fahrzeug zustande gekommen und der Kaufpreis von der Klägerin gezahlt worden ist. Es hat ferner festgestellt, dass die Beschreibung des Fahrzeugs im Inserat ("ohne Mängel"; "technisch alles in Ordnung") unrichtig war. Die Klägerin behauptet, es sei nur aufgrund einer arglistigen Täuschung über den Zustand des Fahrzeugs zu dem Abschluss des Vertrags und der Kaufpreiszahlung gekommen. Das Berufungsgericht legt diesen Vortrag seiner Würdigung zugrunde und geht auf dieser Grundlage von einem durch arglistige Täuschung herbeigeführten Vertrag und insoweit von einem Betrug aus.



c) Der Senat hat Zweifel, ob - wie vom Berufungsgericht angenommen - der Gerichtsstand der unerlaubten Handlung in Deutschland verneint werden kann. Denn die Klägerin stützt ihre Klage nicht unmittelbar auf eine Verpflichtung aus einem abgeschlossenen Vertrag, sondern auf die behauptete unerlaubte Handlung im Vorfeld des Vertragsschlusses. Der Vertrag ist dabei nur insoweit von Bedeutung, als er zugleich Ziel und Folge der Täuschung ist. Wenn die Klage daher in dieser Fallgestaltung nicht im obigen Sinne an einen Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag anknüpft, wäre die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte nach Art. 7 Nr. 2 VO (EU) 1215/2012 begründet (vgl. Spickhoff, IPRax 2017, 72, 76 f.; ders. in Festschrift Canaris, 2017, 547, 555 f., 557 f. mwN; ders. in Festschrift Kronke, 2020, 535 ff., 544; Mankowski, EWiR 2017, 515 f.; vgl. auch ders., EWiR 2019, 157, 158; Brosch, ÖJZ 2015, 958, 959). Darauf, ob es in der Folge zu (weiteren) vertraglichen Vereinbarungen im Hinblick auf die Kaufsache gekommen ist, käme es für die Zuständigkeit nicht an.

d) Eine Entscheidung des Gerichtshofs zu der Frage der Zuständigkeit bei dieser Fallkonstellation gibt es bisher nicht. Bei der Entscheidung Brogsitter (EuGH, Urteil vom 13. März 2014 - C-548/12, BeckRS 2014, 80536 Rn. 9 ff.; vgl. zur Auslegung dieser Entscheidung auch die Schlussanträge des Generalanwalts in der Rechtssache C-59/19 - Wikingerhof GmbH & Co. KG gegen Booking.com BV - vom 10. September 2020, abrufbar unter EUR-Lex - 62019CC0059) kam es anders als in der hier zu beurteilenden Fallgestaltung darauf an, ob eine bereits bestehende vertragliche Ausschließlichkeitsvereinbarung im späteren Verlauf verletzt worden war, wobei die Ansprüche unter anderem auf § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit Betrug und Untreue gestützt waren.

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