BGH Beschluss vom 27.10.2020 - VI ZB 81/19 - Inhaltliche Anforderungen an die Berufungsbegründung nach Abweisung einer Klage des Neuwagenkäufers auf deliktischen Schadensersatz gegen den Hersteller eines vom sog. Abgasskandal betroffenen Dieselfahrzeugs
BGH v. 27.10.2020: Inhaltliche Anforderungen an die Berufungsbegründung nach Abweisung einer Klage des Neuwagenkäufers auf deliktischen Schadensersatz gegen den Hersteller eines vom sog. Abgasskandal betroffenen Dieselfahrzeugs
Der BGH (Beschluss vom 27.10.2020 - VI ZB 81/19) hat entschieden:
Zu den inhaltlichen Anforderungen an die Berufungsbegründung (hier: Abweisung einer Klage wegen Inverkehrbringens eines Kraftfahrzeugs mit unzulässiger Abschalteinrichtung).
Die Klägerin nimmt die Beklagte im Zusammenhang mit dem Erwerb eines von ihr im Jahr 2009 bei einem Autohaus gekauften und von der Beklagten hergestellten VW Passat auf Schadensersatz in Anspruch.
Das Fahrzeug wurde aufgrund einer entsprechenden Typengenehmigung nach EU5 zugelassen. Das Fahrzeug war mit einem Dieselmotor des Typs EA189 ausgestattet, dessen Motorsteuerungssoftware erkennt, ob sich das Fahrzeug innerhalb oder außerhalb der Bedingungen des zur Erlangung der Typengenehmigung durchgeführten Testlaufs befindet. Befindet sich das Fahrzeug außerhalb der Prüfungsbedingungen, werden relativ weniger Abgase in den Ansaugtrakt des Motors zurückgeleitet, als wenn sich das Fahrzeug innerhalb der Prüfungsbedingungen befindet. Das Kraftfahrtbundesamt erkannte in dieser Software eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne der einschlägigen europarechtlichen Vorgaben und ordnete einen Rückruf an. Die Beklagte entwickelte daraufhin ein Softwareupdate, welches für den hier betroffenen Fahrzeugtyp vom Kraftfahrtbundesamt freigegeben und bei dem Fahrzeug der Klägerin aufgespielt wurde.
Die Klägerin ist der Ansicht, die Beklagte sei zur Rückabwicklung des Kaufvertrages verpflichtet, und verlangt von ihr die Rückzahlung des Kaufpreises abzüglich eines Nutzungsersatzes.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 28. Januar 2019 begründet. Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Berufungsgericht die Berufung als unzulässig verworfen, da die Berufungsbegründung nicht den gesetzlichen Anforderungen des § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 und 3 ZPO genüge. Die Berufungsbegründung sei nicht auf das Urteil im konkreten Streitfall zugeschnitten. Soweit sie im ersten Abschnitt urteilsbezogene Angriffe enthalte, beträfen diese offensichtlich ein anderes als das angefochtene Urteil. Auch die weiteren Ausführungen in der Berufungsbegründung erwähnten weder das angefochtene Urteil noch stellten sie heraus, inwieweit aus diesen Ausführungen Zweifel an der Vollständigkeit und Richtigkeit der Tatsachenfeststellungen des Erstgerichts folgten und welche Ansätze der rechtlichen Argumentation des angefochtenen Urteils fehlerhaft sein sollten.
Dagegen wendet sich die Klägerin mit der Rechtsbeschwerde.
II.
1. Die Rechtsbeschwerde ist von Gesetzes wegen statthaft (§ 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO) und auch im Übrigen zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO). Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts genügt die Berufungsbegründung der Klägerin den Anforderungen des § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO.
a) Nach § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO muss die Berufungsbegründung die Umstände bezeichnen, aus denen sich nach Ansicht des Berufungsklägers die Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergeben. Zur Darlegung der Rechtsverletzung gehört die aus sich heraus verständliche Angabe, welche bestimmten Punkte des angefochtenen Urteils der Berufungskläger bekämpft und welche Gründe er ihnen entgegensetzt. Erforderlich und ausreichend ist die Mitteilung der Umstände, die aus der Sicht des Berufungsklägers den Bestand des angefochtenen Urteils gefährden; die Vorschrift stellt keine besonderen formalen Anforderungen hierfür auf (vgl. BGH, Urteil vom 24. Juni 2003 - IX ZR 228/02, ZIP 2003, 1554, 1555, juris Rn. 16 ff. mwN). Für die Zulässigkeit der Berufung ist auch ohne Bedeutung, ob die Ausführungen in sich schlüssig oder rechtlich haltbar sind (Senatsbeschluss vom 21. Juli 2020 - VI ZB 7/20, WM 2020, 1945 Rn. 7 mwN). Zur Bezeichnung des Umstands, aus dem sich die Entscheidungserheblichkeit der Verletzung materiellen Rechts ergibt, genügt regelmäßig die Darlegung einer Rechtsansicht, die dem Berufungskläger zufolge zu einem anderen Ergebnis als dem des angefochtenen Urteils führt (BGH, Urteil vom 24. Juni 2003 - IX ZR 228/02, ZIP 2003, 1554, 1555, juris Rn. 19). Die Berufungsbegründung muss aber auf den konkreten Streitfall zugeschnitten sein. Es reicht nicht aus, die Auffassung des Erstgerichts mit formularmäßigen Sätzen oder allgemeinen Redewendungen zu rügen oder lediglich auf das Vorbringen in erster Instanz zu verweisen (st. Rspr., vgl. nur Senatsbeschluss vom 11. Februar 2020 - VI ZB 54/19, NJW-RR 2020, 503 Rn. 5 mwN). Dabei ist aber stets zu beachten, dass formelle Anforderungen an die Einlegung eines Rechtsmittels im Zivilprozess nicht weitergehen dürfen, als es durch ihren Zweck geboten ist (Senatsbeschluss vom 21. Juli 2020 - VI ZB 7/20, aaO; BGH, Beschluss vom 7. Juni 2018 - I ZB 57/17, NJW 2018, 2894 Rn. 10).
b) Diesen Anforderungen wird die Berufungsbegründung der Klägerin gerecht.
Dem Berufungsgericht ist zwar darin zuzustimmen, dass die im ersten Abschnitt der Berufungsbegründung konkret ausgeführten Rügen offenbar ein anderes Verfahren betreffen. Das angefochtene Urteil wird jedoch korrekt bezeichnet und es wird beanstandet, dass das Urteil - unter anderem - auf einer fehlerhaften rechtlichen Würdigung beruhe. In den weiteren Abschnitten der Berufungsbegründung ("Zum Sachverhalt"; "Rechtliche Würdigung") legt die Klägerin sodann dar, warum die Beklagte nach ihrer Ansicht gemäß §§ 826, 31 BGB auf Rückabwicklung des Kaufvertrages haftet. Aus diesen Ausführungen ergibt sich, welche Gründe die Klägerin insoweit den Erwägungen des Landgerichts entgegensetzt.
aa) Das Landgericht hat einen Anspruch der Klägerin aus §§ 826, 31 BGB verneint, weil es nach dem Vortrag der Klägerin schon an der Darlegung einer Schädigungshandlung der Beklagten fehle. Eine Schädigungshandlung durch aktives Tun sei nicht dargelegt, weil sich aus dem klägerischen Vortrag nicht ergebe, inwieweit die Beklagte aktiv auf die Kaufentscheidung der Klägerin eingewirkt haben solle. Auch ein etwaiger Verstoß der Beklagten gegen Vorschriften der Verordnung (EG) 715/2007 sei hier nicht geeignet, eine Haftung nach § 826 BGB zu begründen, weil diese Verordnung nicht dem Schutz der Vermögeninteressen des einzelnen Erwerbers eines Fahrzeugs dienen solle. Eine sittenwidrige Schädigung durch Unterlassen - hierdurch (arglistiges) Verschweigen der Verwendung der streitgegenständlichen Steuerungssoftware - komme nur bei einer entsprechenden Offenbarungspflicht der Beklagten in Betracht, die nur in besonders schwerwiegenden Fällen angenommen werden könne. Entsprechende Umstände habe die Klägerin aber nicht dargelegt. Insbesondere fehle es an Vorbringen dazu, dass die Verwendung der streitgegenständlichen Steuerungssoftware am Markt einen wertbildenden Faktor von ganz besonderem Gewicht dargestellt habe oder das Fahrzeug auf Grund der verwendeten Software eingeschränkt bzw. nicht nutzbar sei. Das Fahrzeug verfüge über eine "gültige" Typengenehmigung und eine "wirksame" Zulassung.
bb) Demgegenüber führt die Klägerin zu den Voraussetzungen eines Anspruchs aus § 826 BGB in der Berufungsbegründung unter anderem aus, die Beklagte habe nicht nur die Vorschriften des Art. 5 Abs. 2 EG-VO715/2007 außer Acht gelassen, sondern mit der vorgenommenen Manipulation durch den Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung für alle davon betroffenen Fahrzeuge zugleich ein System zur planmäßigen Verschleierung ihres Vorgehens gegenüber den Aufsichtsbehörden einerseits sowie nachfolgend nach dem Inverkehrbringen der Fahrzeuge gegenüber den Verbrauchern andererseits geschaffen. Es habe also eine bewusste Täuschung der Aufsichtsbehörden einerseits und der Verbraucher andererseits vorgelegen, um die entsprechenden Typengenehmigungen für die Fahrzeuge zu erhalten und diese dann so in Verkehr bringen zu können, um dadurch entsprechende Vertragsschlüsse der Händler mit Kunden herbeiführen zu können. Die Täuschung habe allein dem Zweck der Kostensenkung und möglicherweise der Umgehung technischer Probleme gedient, um dadurch entsprechende Wettbewerbsvorteile zu erlangen. Schon dieses Gewinnstreben um den Preis einer bewussten Täuschung und Benachteiligung von Behörden einerseits und Kunden andererseits gebe dem Handeln der Beklagten ein Gepräge der Sittenwidrigkeit. Ein solches zumindest auch den Verbraucher konkludent täuschendes Verhalten sei als sittenwidrig und verwerflich anzusehen, da die Beklagte nicht nur die Aufsichts- und Prüfbehörden getäuscht, sondern durch ihr täuschendes Verhalten bei dem weiteren Inverkehrbringen der Fahrzeuge auch die Ahnungslosigkeit der Verbraucher bewusst zu ihrem Vorteil ausgenutzt habe. Die Bestimmung in § 826 BGB schütze nicht nur das Vermögen an sich, sondern setze bereits bei der Beschränkung der Dispositionsfreiheit des Geschädigten an.
Aus diesem Vorbringen geht hervor, aus welchen rechtlichen und tatsächlichen Gründen die Klägerin - anders als das Landgericht und im Ergebnis im Einklang mit dem Senatsurteil vom 25. Mai 2020 - VI ZR 252/19, ZIP 2020, 1179 Rn. 16 ff., 23, 25 - eine sittenwidrige Schädigungshandlung der Beklagten und den erforderlichen Schutzzweckzusammenhang unabhängig von der Frage, inwieweit die Verordnung (EG) 715/2007 ein Schutzgesetz für den einzelnen Verbraucher darstellt, für gegeben hält, auch wenn insoweit nicht mehr explizit auf das landgerichtliche Urteil Bezug genommen wird.
2. Das Berufungsgericht hat die Berufung daher rechtsfehlerhaft als unzulässig verworfen. Die Sache ist zur Entscheidung über die Begründetheit des Rechtsmittels an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO.