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Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg Beschluss vom 26.10.2022 - 1 S 56.22/ - Zum Carsharing als Form des Gemeingebrauchs

OVG Berlin-Brandenburg v. 26.10.2022: Zum Carsharing als Form des Gemeingebrauchs




Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 26.10.2022 - 1 S 56.22/) hat entschieden:

   Für die Beurteilung der Frage, ob sich ein Fahrzeug vorrangig zu Verkehrszwecken oder verkehrsfremd im öffentlichen Straßenraum befindet, ist eine auf die objektiven Gegebenheiten abstellende Gesamtschau aus der Perspektive eines objektiven Betrachters vorzunehmen; auf subjektive Motive des Straßennutzers, die in den konkreten Umständen der Straßenbenutzung nicht hervortreten, kommt es nicht an. Das stationsungebundene Carsharing unterfällt nicht dem Anwendungsbereich des § 11a BerlStrG, da es sich hierbei um die Ausübung von Gemeingebrauch der zum Kraftfahrzeugverkehr gewidmeten Straßen handelt.

Siehe auch
Carsharing - Car-Sharing
und
Straßenrecht - Gemeingebrauch - Sondernutzung - Widmungsbeschränkungen

Gründe:


Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Das Beschwerdevorbringen, das nach § 146 Abs. 4 VwGO den Umfang der Überprüfung durch das Oberverwaltungsgericht bestimmt, rechtfertigt keine Änderung oder Aufhebung des erstinstanzlichen Beschlusses.

Das Verwaltungsgericht hat zu Recht und mit zutreffender Begründung, auf die der Senat gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO Bezug nimmt, vorläufig festgestellt, dass das stationsungebundene Carsharing-Angebot der Antragstellerinnen dem Anwendungsbereich des § 11a i. V. m. § 11 BerlStrG nicht unterfalle, weil es sich hierbei nicht um Sondernutzung im Sinne des § 11 Abs. 1 BerlStrG handele, sondern um Gemeingebrauch im Sinne des § 10 Abs. 2 BerlStrG. Die dagegen erhobenen Einwände der Beschwerde greifen nicht durch.




1. Gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Antrag auf Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung sei zulässig, wendet sich die Beschwerde lediglich unsubstantiiert mit dem bloßen Hinweis, den Antragstellerinnen gehe es „nur um die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 11a BerlStrG“ (S. 6 der Beschwerdeschrift). Das genügt bereits dem Auseinandersetzungserfordernis des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO nicht und trifft im Übrigen nicht zu. Wie das Verwaltungsgericht im Einzelnen aufgezeigt hat, hat der Gesetzgeber die Regelung des § 11a Abs. 1 BerlStrG zur Vermeidung einer verfassungsrechtlichen Kompetenzüberschreitung gerade offen formuliert, so dass nicht fraglich ist, ob die Norm verfassungsgemäß ist, sondern ob die von den Antragstellerinnen praktizierte Form des Carsharing eine Sondernutzung darstellt oder nicht.

2. Das Beschwerdevorbringen ist nicht geeignet, die Annahme des Verwaltungsgerichts in Frage zu stellen, bei summarischer Prüfung sei diese Frage zu verneinen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts bestimmt das abschließend geregelte Straßenverkehrsrecht, inwieweit eine zulässige Teilnahme am Straßenverkehr und mithin keine Sondernutzung vorliegt, wenn die Straße straßenrechtlich dem öffentlichen Verkehr und insbesondere dem unbeschränkten Kraftfahrzeugverkehr gewidmet ist (BVerfG, Beschluss vom 9. Oktober 1984 – 2 BvL 10/82 – BVerfGE 67, 299 ff., juris Rn. 65; BVerwG, Urteil vom 3. Juni 1982 – 7 C 73.79 – Buchholz 442.151 § 12 StVO Nr. 5; juris Rn. 11 m.w.N.). Dass hier eine Nutzung von Straßen durch die Antragstellerinnen oder ihre Kunden im Raum steht, die nicht dem unbeschränkten Kraftfahrzeugverkehr gewidmet sind, macht die Beschwerde nicht geltend und ist auch nicht ersichtlich.




Auch das Parken von Kraftfahrzeugen, das § 12 Abs. 2 StVO als verkehrsüblichen und gemeinverträglichen Vorgang des ruhenden Verkehrs geregelt hat, ist hinsichtlich seiner Zulässigkeit ausschließlich nach den straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften zu beurteilen (BVerwG, a. a. O.), und zwar unabhängig davon, wie viele Personen und Fahrzeuge jeweils am Verkehr teilnehmen und ob sich Probleme aus der "massenhaften" oder gefährlichen Ausübung der danach zugelassenen Verkehrsarten für die Verkehrsteilnehmer oder für Außenstehende ergeben (BVerfG, a. a. O. Rn. 67). Es setzt als lediglich vorübergehende Unterbrechung des fließenden Verkehrs voraus, dass das Fahrzeug zum Verkehr zugelassen und betriebsbereit und nicht zu einem anderen Zweck als der späteren Inbetriebnahme aufgestellt ist (BVerwG, a. a. O. Rn. 11); der Verkehrsbezug wird m. a. W. erst dort aufgegeben, wo ein aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht umgehend betriebsbereites oder ein vorrangig zu anderen Zwecken als zur Wiederinbetriebnahme abgestelltes Fahrzeug den öffentlichen Straßengrund in Anspruch nimmt und somit zu einer auf die Straße aufgebrachten verkehrsfremden "Sache" wird (BVerfG, a. a. O. Rn. 70).

Für die Beurteilung der Frage, ob sich ein Fahrzeug vorrangig zu Verkehrszwecken oder verkehrsfremd im öffentlichen Straßenraum befindet, ist eine auf die objektiven Gegebenheiten abstellende Gesamtschau aus der Perspektive eines objektiven Betrachters vorzunehmen; auf subjektive Motive des Straßennutzers, die in den konkreten Umständen der Straßenbenutzung nicht hervortreten, kommt es nicht an (BVerwG, Beschluss vom 28. August 2012 – 3 B 8.12 – Buchholz 407.4 § 8 FStrG, juris Rn. 12 ff.; BVerwG, Urteil vom 3. Juni 1982, a. a. O. Rn. 11).

a) Dass sich die Mieter der Fahrzeuge der Antragstellerinnen mit der Inbetriebnahme und dem anschließenden (straßenverkehrsrechtlich zulässigen) Wiederabstellen der Fahrzeuge außerhalb des Gemeingebrauchs der jeweiligen Straße verhalten, macht die Beschwerde nicht geltend. Auch die Antragstellerinnen tun jedoch bei objektiver Betrachtung der Gesamtumstände nichts anderes, als die zum Verkehr zugelassenen und betriebsbereiten Fahrzeuge auf öffentlichen Straßen ab- bzw. bereitzustellen zu dem einzigen Zweck, sie möglichst bald und möglichst häufig durch ihre Kunden vom ruhenden in den fließenden Verkehr überführen zu lassen. Allein darauf beruht ihr Geschäftsmodell. Dass sie ihre Fahrzeuge gewerblich nutzen, haben sie mit den Vermietern stationsgebundener Mietfahrzeuge gemein, darüber hinaus auch mit sämtlichen Haltern gewerblich genutzter Fahrzeuge aller Art. Es steht der Annahme des Gemeingebrauchs der Straße nicht entgegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Juni 1982, a. a. O. Rn. 13; König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl., § 12 StVO Rn. 42a; OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20. November 2020 – 11 B 1459.20 – NJW 2020, 3797, juris Rn. 19).

b) Der Einwand der Beschwerde, das Verwaltungsgericht habe die Vergleichbarkeit des Vorgehens der Antragstellerinnen mit dem Straßenhandel verkannt, greift nicht durch. Anders als „Straßenhändler“, die den öffentlichen Straßenraum zum Anbieten verkehrsfremder Waren oder Leistungen benutzen, stellen die Antragstellerinnen ihre Fahrzeuge gerade für die Nutzung zu Verkehrszwecken bereit. Es besteht im Unterschied zum üblichen Straßenhandel Identität zwischen Geschäftszweck und Widmungszweck.


Die Antragstellerinnen treten über die bloße Bereitstellung der Fahrzeuge hinaus nicht durch ihre Mitarbeiter im öffentlichen Raum in Erscheinung, während etwa die Vermieter stationsgebundener Fahrzeugvermietungen bzw. ihre Mitarbeiter den öffentlichen Straßenraum oftmals zur persönlichen Übergabe oder Rücknahme der Fahrzeuge nutzen. Ungeachtet der zivilrechtlichen Einzelheiten des Vertragsschlusses der Antragstellerinnen mit ihren Kunden steht jedenfalls außer Frage, dass die Antragstellerinnen den öffentlichen Straßenraum nicht dazu nutzen, dort durch ihre Mitarbeiter Mietvertragsabschlüsse vorzunehmen oder für solche Vertragsabschlüsse zu werben. Tatsächlich werden diese Vertragsabschlüsse in der überwiegenden Zahl der Fälle bereits vor dem Aufsuchen des Fahrzeugs durch den Kunden elektronisch vorgenommen. Auch in den wenigen Fällen, in denen der Kunde erst in der Nähe des Fahrzeugs die für den Vertragsschluss notwendigen elektronischen Eingaben vornimmt, dient dies nicht zu verkehrsfremden Zwecken, sondern allein dazu, dass Fahrzeug in Betrieb nehmen zu können.

Unabhängig davon sind dem objektiven Betrachter, auf dessen Perspektive es maßgeblich ankommt, die Einzelheiten der Allgemeinen Geschäftsbedingungen zwischen den Antragstellerinnen und ihren Kunden weder bekannt noch sind sie für ihn „sichtbar“. Entscheidend bleiben allein die äußerlich erkennbaren Merkmale und deren Bewertung im Rahmen einer Gesamtschau (vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. August 2012, a.a.O. Rn. 12).

c) Die Fahrzeuge der Antragstellerinnen haben des Weiteren mit der überwiegenden Zahl gewerblich genutzter Fahrzeuge gemein, dass auf ihnen Werbemittel aufgebracht sind, die auf den Firmeninhaber hinweisen. Anhaltspunkte dafür, dass die Antragstellerinnen ihre Fahrzeuge zum Zwecke der Werbung möglichst lang im ruhenden Verkehr halten und hierdurch verkehrsfremd nutzen wollen, zeigt die Beschwerde nicht auf; dies würde auch ihrem Geschäftsmodell widersprechen. Im Übrigen handelt es sich bei den von den Antragstellerinnen verwendeten Fahrzeugen um gebräuchliche Serienmodelle, die auch in ihrem äußeren Erscheinungsbild nicht von sonstigen vergleichbaren Fahrzeugen abweichen.



d) Der Umstand, dass die Mietbedingungen der Antragstellerinnen vorsehen, dass die Fahrzeuge nicht in den Außenbezirken der Stadt abgestellt werden dürfen, erlaubt nicht die rechtliche Qualifikation, das Abstellen der Fahrzeuge im zentralen Innenstadtbereich stelle kein straßenverkehrsrechtlich zulässiges Parken und damit keine Ausübung des Gemeingebrauchs dar. Etwaigen daraus resultierenden Verkehrsproblemen ist nach der eingangs zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 9. Oktober 1984. a. a. O. Rn. 67) mit den Mitteln des Straßenverkehrsrechts zu begegnen. Allerdings zeigt die Beschwerde derartige Probleme substantiiert nicht auf. Eine signifikante Zunahme von Fahrzeugen in der Innenstadt durch den Geschäftsbetrieb der Antragstellerinnen vermag die Beschwerde mit konkreten Zahlen nicht zu untermauern.

e) Ob die genannte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch dem Versuch entgegensteht, dem massenhaft auftretenden Problem straßenverkehrsordnungswidrig (§ 1 Abs. 1 StVO) abgestellter Mietfahrräder (vgl. hierzu Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 20. November 2020, a. a. O.) und E-Scooter mit den Mitteln des Straßenrechts zu begegnen, bedarf keiner Entscheidung; ein solcher Fall liegt hier nicht vor.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 und Abs. 3 GKG. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

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