Verwaltungsgericht Berlin Beschluss vom 01.08.2022 - 1 L 193.22 - Einstweilige Zulassung eines stationären Carsharing-Modells in Berlin
VG Berlin v. 01.08.2022: Einstweilige Zulassung eines stationären Carsharing-Modells in Berlin
Das Verwaltungsgericht Berlin (Beschluss vom 01.08.2022 - 1 L 193.22) hat entschieden:
Parken - auch im Zusammenhang mit gewerblicher Kraftfahrzeugvermietung - t ist nach der Straßenverkehrsordnung zulässige Teilnahme am Straßenverkehr. Carsharing ist somi im Land Berlin vorerst keine Sondernutzung.
“... Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch begründet.
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann eine einstweilige Anordnung zur Sicherung eines Rechts des Antragstellers getroffen werden, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung dieses Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO sind dabei die tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs (Anordnungsanspruch) in gleicher Weise glaubhaft zu machen wie die Gründe, welche die Eilbedürftigkeit der gerichtlichen Entscheidung bedingen (Anordnungsgrund). Dem Wesen und Zweck des Verfahrens nach § 123 Abs. 1 VwGO entsprechend, kann das Gericht im Wege der einstweiligen Anordnung grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und dem jeweiligen Antragsteller nicht schon das gewähren, was Ziel eines entsprechenden Hauptsacheverfahrens wäre. Begehrt ein Antragsteller die Vorwegnahme der Hauptsache, kommt die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nur dann in Betracht, wenn ein Obsiegen im Hauptsacheverfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist und dem Rechtsschutzsuchenden andernfalls schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (st. Rspr. der Kammer, siehe nur Beschluss der Kammer vom 22. April 2022 - VG 1 L 152/22, juris Rn. 7 f.).
Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Sicherung der Rechte der Antragstellerinnen nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO geboten. Die Antragstellerinnen haben sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache steht dem Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht entgegen.
a) Die Antragstellerinnen haben einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Das stationsungebundene Carsharing unterfällt dem Anwendungsbereich des § 11a BerlStrG i.V.m. § 11 BerlStrG nicht, da es sich nicht um eine Sondernutzung handelt.
Nach § 11 Abs. 1 BerlStrG ist jeder Gebrauch der öffentlichen Straßen, der über den Gemeingebrauch hinausgeht, eine Sondernutzung. Der Gemeingebrauch ist nach § 10 Abs. 2 Satz 1 BerlStrG der widmungsgemäße Gebrauch der öffentlichen Straßen für den Verkehr. Zur Bestimmung des von § 10 Abs. 2 Satz 1 BerlStrG geregelten Gemeingebrauchs ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts das Bundesrecht heranzuziehen. Das Straßenverkehrsrecht, das den Inhalt des Gemeingebrauchs mitbestimmt, gehört zur konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes (Art. 72 Abs. 1, 74 Nr. 22 GG), die Länder sind nach Art. 70 GG für das Straßenrecht zuständig. Der Bund hat von seiner Gesetzgebungsbefugnis durch den Erlass des Straßenverkehrsgesetzes sowie durch die auf Grund der Ermächtigung des § 6 dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen, insbesondere durch die Straßenverkehrs- Ordnung (StVO), Gebrauch gemacht. Danach bestimmt, wenn die Straße straßenrechtlich einem öffentlichen Verkehr - wie etwa dem unbeschränkten Kraftfahrzeugverkehr - gewidmet ist, für den Bereich dieses Verkehrs - einschließlich des ruhenden Verkehrs - das bundesrechtlich abschließend geregelte Straßenverkehrsrecht, inwieweit eine zulässige Teilnahme am Straßenverkehr vorliegt. Insoweit ist der in § 7 FStrG sowie landesstraßenrechtlich geregelte Inhalt des Gemeingebrauchs bundesverkehrsrechtlich mitbestimmt. Demnach ist auch das Parken von Kraftfahrzeugen, das § 12 Abs. 2 StVO als verkehrsüblichen und gemeinverträglichen Vorgang des ruhenden Verkehrs geregelt hat, hinsichtlich seiner Zulässigkeit ausschließlich nach den straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften zu beurteilen. Es setzt als lediglich vorübergehende Unterbrechung des fließenden Verkehrs voraus, dass das Fahrzeug zum Verkehr zugelassen und betriebsbereit ist. Nur wenn und solange diese objektiven Merkmale der Zulässigkeit und Möglichkeit jederzeitiger Inbetriebnahme des Kraftfahrzeugs nicht gegeben sind oder das Kraftfahrzeug zu einem anderen Zweck als dem der späteren Inbetriebnahme abgestellt ist, kann eine über den Gemeingebrauch hinausgehende Sondernutzung der Straße vorliegen, die bei fehlender Erlaubnis straßenrechtlich begründete Eingriffe möglich macht (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Dezember 1969 - VII C 76.68, juris Rn. 10 f.; Urteil vom 3. Juni 1982 - BVerwG 7 C 73.79, juris Rn. 11). Nach diesen Maßgaben handelt es sich beim stationsungebundenen Carsharing um erlaubnisfreien Gemeingebrauch. Denn das Parken der von den Antragstellerinnen vermieteten Pkw stellt, was zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist, eine nach § 12 StVO zulässige Teilnahme am Straßenverkehr dar. Die zum stationsungebundenen Carsharing eingesetzten Pkw werden auch nicht zu einem anderen Zweck als dem der späteren Inbetriebnahme abgestellt. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht für abgestellte Mietwagen bereits entschieden. Es kommt nicht darauf an, von wem der Mietwagen in Bewegung gesetzt wird. Aus welchen Gründen und durch wen die Mietwagen gefahren werden, ist straßenverkehrsrechtlich gleichgültig. Der Vermieter nutzt den öffentlichen Straßengrund auch nicht gleichsam als "Lagerplatz" für eine "Ware", die in seinem Gewerbebetrieb vermietet werden soll. Denn der Vermieter tut nichts anderes, als zum Verkehr zugelassene und betriebsbereite Kraftfahrzeuge bei objektiv gegebener und gewollter Möglichkeit jederzeitiger Inbetriebnahme auf der Straße aufzustellen und damit von dem gemäß § 12 Abs. 2 StVO zulässigen Verkehrsvorgang des Parkens Gebrauch zu machen. Dass dies im Zusammenhang mit der Kraftfahrzeugvermietung geschieht, ist unschädlich. Das gewerbliche Instrument der Vermietung und das deshalb veranlasste Bereitstellen der Kraftfahrzeuge auf der Straße dienen lediglich dazu, die von vornherein bezweckte Wiederinbetriebnahme der Kraftfahrzeuge als Verkehrsmittel zu erreichen; es vermag diesen Verkehrszweck selbst nicht zu verdrängen (BVerwG, Urteil vom 3. Juni 1982 - BVerwG 7 C 73.79, juris Rn. 13). Diese Erwägungen treffen nach Ansicht der Kammer auch auf das stationsungebundene Carsharing zu. Sowohl bei Mietwagen als auch bei stationsunabhängigen Carsharingfahrzeugen erfolgt der Abstellvorgang auf öffentlichen Parkflächen vorrangig mit dem Ziel der späteren Wiederinbetriebnahme durch einen (anderen) Kunden (Hellriegel/Heß, NZV 2021, 557, 558). Auch aus der Art und Weise des Vertragsschlusses über die Anmietung von Carsharingfahrzeugen lässt sich kein überwiegender gewerblicher Zweck herleiten. Der Mietvertrag über die Nutzung von stationsunabhängigen Carsharingfahrzeugen kommt über die Handy-App des Carsharinganbieters zustande, indem der Kunde sich in der App ein verfügbares Fahrzeug in seiner Nähe anzeigen lässt, es daraufhin reservieren und sodann nutzen kann. Dieser Vorgang kann an einem beliebigen Standort erfolgen. Dass der Mietvertragsschluss nicht im öffentlichen Straßenraum stattfindet, weil Kunden zuerst das Fahrzeug reservieren und sich dann zu diesem begeben, dürfte in der Praxis sogar den Regelfall darstellen. Damit wird aber die Gewerbefläche für den Mietvertragsschluss räumlich nicht auf Flächen des öffentlichen Straßenraums verlagert. Dem parkenden Fahrzeug selbst kommt im Übrigen kein eigener rechtsgeschäftlicher Erklärungswert zu (Hellriegel/Heß, NZV 2021, 557, 559; Kaufmann, NVwZ 2021, 745, 748).
Soweit vertreten wird, dass es sich bei StVO-konform abgestellten Mietfahrrädern um eine Sondernutzung handele, überzeugt dies einerseits nicht, da die Überlegung, dass sich die Wiederinbetriebnahme eines abgestellten Mietfahrrads dem - verkehrsfremden - Zweck unterordne, zuvor mit Hilfe eben dieses Fahrrads eine Vereinbarung über dessen Anmietung zu treffen (OVG Münster, Beschluss vom 20. November 2020 - 11 B 1459/20, juris Rn. 38), in der dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts keine Stütze findet (so auch Kaufmann, NVwZ 2021, 745, 748; Hellriegel/Heß, NZV 2021, 557, 559; Koschmieder/Huß, NZV 2021, 407, 410; für die Einstufung von Free-Floating-Systemen als Gemeingebrauch auch Linke, NZV 2021, 347). Andererseits ist diese Rechtsprechung nicht auf stationsungebundenes Carsharing übertragbar, da sich die der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster zugrunde liegende Anmietung eines Fahrrads von der Anmietung eines Carsharingfahrzeugs der Antragstellerinnen unterscheidet, denn der Mietvertragsschluss im letztgenannten Fall findet - wie gezeigt - regelmäßig außerhalb des öffentlichen Straßenraums statt. Dies liegt bei den Mietfahrrädern anders. Hier ist das im öffentlichen Straßenraum abgestellte Fahrrad unentbehrlich ist für den Abschluss des ihn betreffenden Mietvertrags. Dieser kann überhaupt nur zustande kommen, wenn die entsprechende "Hardware" - das Mietfahrrad mit Radnummer und bedienbarem Display - und die notwendige "Software" - der mittels der App des Anbieters oder fernmündlich per Handy übermittelte Öffnungscode - unmittelbar zur Hand sind (OVG Münster, Beschluss vom 20. November 2020 - 11 B 1459/20, juris Rn. 38). Weitere Unterschiede liegen darin, dass es sich bei den von den Antragstellerinnen eingesetzten Pkw um Serienmodelle handelt. Sie unterscheiden sich daher nicht - abgesehen von einem Werbeaufdruck - von privat genutzten Pkw; auch der Abstellvorgang ist äußerlich kein anderer (so auch Hellriegel/Heß, NZV 2021, 557, 559). Die Mietfahrräder, zu denen die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster erfolgte, sind hingegen schon äußerlich von herkömmlich genutzten Fahrrädern verschieden (Kaufmann, NVwZ 2021, 745, 749). Schließlich wohnt den auf dem Gehweg abgestellten Mietfahrrädern ein größeres (Stolper-)Risiko für Fußgänger inne, welches ein Regulierungsbedürfnis rechtfertigt, aber bei StVO-konform abgestellten Carsharingfahrzeugen gänzlich fehlt (Hellriegel/Heß, NZV 2021, 557, 560).
b) Die Antragstellerinnen haben einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Dieser folgt daraus, dass nach der Rechtsauffassung des Antragsgegners das von den Antragstellerinnen angebotene Carsharing bereits ab dem 1. September 2022 eine erlaubnispflichtige Sondernutzung darstellt, die dem Rechtsregime der §§ 11, 11a BerlStrG unterfällt. Die unveränderte Fortsetzung des stationsungebundenen Carsharings der Antragstellerin stellt nach der gesetzlichen Regelung in § 28 Abs. 1 Nr. 3 BerlStrG ab diesem Zeitpunkt eine Ordnungswidrigkeit dar. Ausgehend hiervon kann Eilrechtsschutz nicht mit dem Verweis auf die Durchführung des Hauptsacheverfahrens versagt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. April 2003 - 1 BvR 2129/02, juris Rn. 14; VG Berlin, Beschluss vom 5. Juni 2014 - VG 10 L 224.14, juris Rn. 45). Zudem benötigen die Antragstellerinnen angesichts dessen, dass infolge einer Änderung des rechtlichen Rahmens - kein erlaubnisfreier Gemeingebrauch, sondern erlaubnispflichtige Sondernutzung - nicht unerhebliche unternehmerische Dispositionen vorzunehmen wären, zeitnah Klarheit über die Rechtslage.
c) Das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache steht der einstweiligen Anordnung nicht entgegen. Entgegen der Ansicht der Antragstellerinnen wird mit der tenorierten Entscheidung die Hauptsache vorweggenommen. Denn dies ist nicht erst dann der Fall, wenn sich die einstweilige Anordnung gemessen am in der Hauptsache Erstrebten als rechtlich oder faktisch endgültig darstellt (so aber Hong, NVwZ 2012, 468, 471 f.). Vielmehr ist auch eine vorläufige Vorwegnahme der Hauptsache eine Vorwegnahme im Rechtssinn. Sie vermittelt dem Antragsteller für die Dauer des Klageverfahrens bereits die Rechtsposition, die er in der Hauptsache erst anstrebt (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 22. September 2008 - 13 ME 90/08, juris Rn. 3). Die Vorwegnahme der Hauptsache ist hier jedoch zulässig. Einerseits bestehen hohe Erfolgsaussichten für die Antragstellerinnen im Hauptsacheverfahren. Andererseits kann den Antragstellerinnen aus den o.g. Gründen nicht zugemutet werden, das Hauptsacheverfahren abzuwarten.