Das Verkehrslexikon

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Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 10.01.1995 - 1 BvR 718/89; 1 BvR 719/89; 1 BvR 722/89; 1 BvR 723/89 - Zum Gewaltbegriff (Sitzblockade-Urteil)

BVerfG v. 10.01.1995: : Zum Gewaltbegriff (Sitzblockaden II)




Das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 10.01.1995 - 1 BvR 718/89; 1 BvR 719/89; 1 BvR 722/89; 1 BvR 723/89) hat entschieden:

   Die erweiternde Auslegung des Gewaltbegriffs in § 240 Abs 1 StGB im Zusammenhang mit Sitzdemonstrationen verstößt gegen Art 103 Abs 2 GG.

Siehe auch
Blockade-Aktionen / Protestblockaden / Sitzblockaden
und
Nötigung im Straßenverkehr

Aus den Entscheidungsgründen:


Die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts verstoßen gegen Art. 103 Abs. 2 GG.

1. Die Bedeutung von Art. 103 Abs. 2 GG hat das Bundesverfassungsgericht bereits in mehreren Verfahren dargelegt (vgl. zuletzt BVerfGE 71, 108 (114 ff.); 73, 206 (234 ff)).

Danach enthält diese Regelung nicht nur ein Rückwirkungsverbot für Strafvorschriften. Sie verpflichtet den Gesetzgeber vielmehr auch, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Anwendungsbereich und Tragweite der Straftatbestände sich aus dem Wortlaut ergeben oder jedenfalls durch Auslegung ermitteln lassen. Diese Verpflichtung dient einem doppelten Zweck. Sie soll einerseits sicherstellen, dass die Normadressaten vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist. Sie soll andererseits gewährleisten, dass die Entscheidung über strafwürdiges Verhalten im voraus vom Gesetzgeber und nicht erst nachträglich von der vollziehenden oder der rechtsprechenden Gewalt gefällt wird. Insoweit enthält Art. 103 Abs. 2 GG einen strengen Gesetzesvorbehalt, der die Strafgerichte auf die Rechtsanwendung beschränkt.

Das schließt allerdings nicht eine Verwendung von Begriffen aus, die in besonderem Maß der Deutung durch den Richter bedürfen. Auch im Strafrecht steht der Gesetzgeber vor der Notwendigkeit, der Vielgestaltigkeit des Lebens Rechnung zu tragen. Ferner ist es wegen der Allgemeinheit und Abstraktheit von Strafnormen unvermeidlich, dass in Einzelfällen zweifelhaft sein kann, ob ein Verhalten noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt oder nicht. Jedenfalls im Regelfall muss der Normadressat aber anhand der gesetzlichen Vorschrift voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist. In Grenzfällen ist auf diese Weise wenigstens das Risiko einer Bestrafung erkennbar.




Für die Rechtsprechung folgt aus dem Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit ein Verbot analoger oder gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung. Dabei ist "Analogie" nicht im engeren technischen Sinn zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, erweist dieser sich als maßgebendes Kriterium: Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. Da Art. 103 Abs. 2 GG die Vorhersehbarkeit der Strafandrohung für den Normadressaten garantieren will, ist die Grenze aus dessen Sicht zu bestimmen.

Der Gesetzgeber hat also zu entscheiden, ob und in welchem Umfang er ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz ihm wesentlich (und notwendig) erscheint, gerade mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen will. Den Gerichten ist es verwehrt, seine Entscheidung zu korrigieren. Würde erst eine über den erkennbaren Wortsinn der Vorschrift hinausgehende Deutung zur Strafbarkeit eines Verhaltens führen, so müssen sie zum Freispruch gelangen. Dies gilt auch dann, wenn infolge des Bestimmtheitsgebots besonders gelagerte Einzelfälle aus dem Anwendungsbereich eines Strafgesetzes herausfallen, obwohl sie ähnlich strafwürdig erscheinen mögen wie das pönalisierte Verhalten. Es ist dann Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, ob er die Strafbarkeitslücke bestehen lassen oder durch eine neue Regelung schließen will.

2. § 240 StGB ist hinsichtlich der - hier allein einschlägigen - Gewaltalternative mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar.

a) Die Nötigungsvorschrift des § 240 StGB stellt nach herrschender Meinung Angriffe auf die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung unter Strafe. Die Freiheit der Willensentschließung und noch mehr die der Willensbetätigung unterliegt allerdings vielfältigen gesellschaftlichen Zwängen, die keineswegs alle als Unrecht gelten oder gar strafwürdig erscheinen. Der Gesetzgeber hat daher die Strafbarkeit auf die Verwendung bestimmter Mittel beschränkt. In seiner ursprünglichen Fassung stellte § 240 StGB die Nötigung "durch Gewalt oder durch Bedrohung mit einem Verbrechen oder Vergehen" unter Strafe (vgl. zu Vorgeschichte und Änderungen des Gesetzestextes Fabricius, Die Formulierungsgeschichte des § 240 StGB, 1991). Durch die Strafrechtsangleichungsverordnung vom 29. Mai 1943 (RGBl. I S. 339) wurde der Drohungstatbestand unter Rückgriff auf Vorarbeiten der Weimarer Zeit ausgeweitet. Strafbar war danach die "Drohung mit einem empfindlichen Übel". Zur Begrenzung des so erweiterten Tatbestands wurde gleichzeitig ein neuer Absatz 2 eingefügt, demzufolge die Tat rechtswidrig war, "wenn die Anwendung der Gewalt oder die Zufügung des angedrohten Übels zu dem angestrebten Zweck dem gesunden Volksempfinden widerspricht". Dadurch sollte klargestellt werden, dass es weder auf die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Nötigungsmittels oder des Nötigungszwecks für sich allein ankam, sondern auf die Unangemessenheit der Verbindung von Mittel und Zweck im konkreten Fall (vgl. Schäfer, LK, 10. Aufl. 1989, § 240 Rdnr. 1). Das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. August 1953 (BGBl. I S. 735) hielt an der Ausweitung der Drohungsalternative fest, stellte aber den Maßstab für die Beurteilung des Zweck-Mittel-Verhältnisses von "gesundem Volksempfinden" auf "Verwerflichkeit" um. Durch das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25. Juni 1969 (BGBl. I S. 645) wurden die angedrohten Strafen gemildert.




b) Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 11. November 1986 (BVerfGE 73, 206 - Mutlangen), das ebenfalls Sitzdemonstrationen vor militärischen Einrichtungen betraf, die aus Protest gegen die atomare Nachrüstung stattfanden, § 240 StGB für vereinbar mit Art. 103 Abs. 2 GG erklärt, und zwar sowohl hinsichtlich des Gewaltbegriffs in Absatz 1 als auch der Verwerflichkeitsklausel in Absatz 2 dieser Vorschrift (a.a.O., S. 236 bis 239). Darauf wird verwiesen. Ob daran auch bezüglich des Absatzes 2 in vollem Umfang festzuhalten ist, bedarf hier keiner Entscheidung.

3. Dagegen verstößt die Auslegung des Gewaltbegriffs in § 240 Abs. 1 StGB durch die Strafgerichte gegen Art. 103 Abs. 2 GG.

Im Unterschied zur Verfassungsmäßigkeit der Norm war die Verfassungsmäßigkeit der Auslegung in dem Urteil vom 11. November 1986 (BVerfGE 73, 206) streitig geblieben. Während vier Richter keinen Grund zur verfassungsrechtlichen Beanstandung dieser Auslegung sahen (a.a.O., S. 242 bis 244), hielten die vier anderen Richter sie für unvereinbar mit dem Bestimmtheitsgrundsatz (a.a.O., S. 244 bis 247). Die Entscheidung in dem damaligen Verfahren beruhte unter diesen Umständen auf § 15 Abs. 3 Satz 3 BVerfGG. Die verfassungsrechtliche Frage selber ist jedoch unentschieden geblieben (vgl. BVerfGE 76, 211 (217)). Sie wird nunmehr im Sinn der Unvereinbarkeit beantwortet.

a) Den angegriffenen Entscheidungen liegt das Verständnis des Gewaltbegriffs zugrunde, das sich in der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Lauf der Zeit entwickelt hat. Diese Entwicklung ist durch die abnehmende Bedeutung der Entfaltung körperlicher Kraft auf seiten des Täters und die wachsende Bedeutung der bei dem Opfer eintretenden Zwangswirkung gekennzeichnet (vgl. Blei, JA 1970, S. 19, 77, 141; Schäfer, LK, a.a.O., Rdnr. 7). Anfangs war unter Gewalt allein eine physische Einwirkung des Täters auf das Opfer, die bei diesem als körperlicher Zwang wirkte, verstanden worden, während es sich bei der Drohung um psychische Einwirkungen handelte, die vom Opfer als seelischer Zwang empfunden wurden. Zwar hat die Rechtsprechung bis heute daran festgehalten, dass Gewalt im Sinn des Nötigungstatbestands nur beim Einsatz körperlicher Kraft vorliegt. Doch ist das Maß der aufgewandten Kraft, die für nötig gehalten wird, damit von Gewalt gesprochen werden kann, stetig verringert und das Erfordernis einer körperlichen Zwangswirkung beim Nötigungsopfer gänzlich aufgegeben worden.

Den heutigen Stand der Rechtsprechung markiert das Laepple- Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1969 (BGHSt 23, 46 (54)). Danach setzt Gewalt im Sinn von § 240 Abs. 1 StGB nicht den "unmittelbaren Einsatz körperlicher Kräfte" voraus. Es genügt vielmehr, dass der Täter "nur mit geringem körperlichen Kraftaufwand einen psychisch determinierten Prozess" beim Opfer in Lauf setzt. Für die Strafbarkeit kommt es dabei entscheidend auf das "Gewicht der ... psychischen Einwirkung" an. Diese Interpretation, die gewöhnlich als "Vergeistigung" oder "Entmaterialisierung" des Gewaltbegriffs bezeichnet wird, findet ihren Grund in dem Bestreben, die Willensfreiheit in wirksamer Weise auch gegenüber solchen strafwürdigen Einwirkungen zu schützen, die zwar sublimer, aber ähnlich wirksam wie körperlicher Kraftaufwand sind (vgl. BGHSt 1, 145 (147); 8, 102 (103); BVerfGE 73, 206 (242)).

Diese Ausweitung des Gewaltbegriffs durch die Rechtsprechung ist sowohl in der strafrechtlichen als auch in der verfassungsrechtlichen Literatur umstritten (vgl. die umfassenden Nachweise in BVerfGE 73, 206 (232 f.)). Das Mutlangen-Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat die erhoffte Klärung wegen der Stimmengleichheit im Senat nicht herbeigeführt. Die Ausführungen zum Gewaltbegriff haben vielmehr ihrerseits Kritik gefunden (vgl. etwa Bertuleit/Herkströter, KJ 1987, S. 331; Calliess, NStZ 1987, S. 209; Kühl, StV 1987, S. 122; Meurer/Bergmann, JR 1988, S. 49; Otto, NStZ 1987, S. 212; Prittwitz, JA 1987, S. 17; Schmitt Glaeser, BayVBl. 1988, S. 454; Starck, JZ 1987, S. 145; Tröndle, Rebmann-FS, 1989, S. 481; Zuck, MDR 1987, S. 636), die je nach Standpunkt die tragende oder die nichttragende Auffassung betrifft.




b) Bei einer erneuten Überprüfung ist das Bundesverfassungsgericht mit fünf zu drei Stimmen zu der Auffassung gelangt, dass die den angegriffenen Entscheidungen zugrundeliegende Auslegung des Gewaltbegriffs mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar ist.

Der Begriff der Gewalt, der im allgemeinen Sprachgebrauch mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet wird, muss hier im Zusammenhang des Normgefüges verstanden werden. Der Gesetzgeber wollte in § 240 StGB nicht jede Zwangseinwirkung auf den Willen Dritter unter Strafe stellen. Andernfalls wären auch zahlreiche Verhaltensweisen, die im Sozialleben, etwa im Erziehungswesen, in der Arbeitswelt oder im Verkehrsbereich, teils erforderlich, teils unvermeidlich sind, der Strafdrohung unterfallen. Um das zu vermeiden, hat er sich nicht damit begnügt, das pönalisierte Verhalten als Nötigung zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu beschreiben, sondern die Strafbarkeit einer derartigen Handlung von der Wahl bestimmter Nötigungsmittel abhängig gemacht, nämlich Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel. Eine Ausweitung der Mittel im Wege der Interpretation, etwa auf List oder Suggestion, scheidet nach einhelliger Auffassung in Judikatur und Literatur aus. Das gilt selbst dann, wenn diese Mittel eine ähnliche Wirkung auf das Nötigungsopfer haben wie die beiden im Gesetz pönalisierten.

Art. 103 Abs. 2 GG setzt aber nicht nur der Tatbestandsergänzung, sondern auch der tatbestandsausweitenden Interpretation Grenzen. Die Auslegung der Begriffe, mit denen der Gesetzgeber die pönalisierten Mittel bezeichnet hat, darf nicht dazu führen, dass die dadurch bewirkte Eingrenzung der Strafbarkeit im Ergebnis wieder aufgehoben wird.


Da die Ausübung von Zwang auf den Willen Dritter bereits im Begriff der Nötigung enthalten ist und die Benennung bestimmter Nötigungsmittel in § 240 Abs. 2 StGB die Funktion hat, innerhalb der Gesamtheit denkbarer Nötigungen die strafwürdigen einzugrenzen, kann die Gewalt nicht mit dem Zwang zusammenfallen, sondern muss über diesen hinausgehen. Deswegen verband sich mit dem Mittel der Gewalt im Unterschied zur Drohung von Anfang an die Vorstellung einer körperlichen Kraftentfaltung auf seiten des Täters. Zwangseinwirkungen, die nicht auf dem Einsatz körperlicher Kraft, sondern auf geistig- seelischem Einfluss beruhen, erfüllen unter Umständen die Tatbestandsalternative der Drohung, nicht jedoch die der Gewaltanwendung. An der Körperlichkeit als Gewaltmerkmal hat die Rechtsprechung seitdem zwar festgehalten, auf die Kraftentfaltung jedoch so weitgehend verzichtet, dass nunmehr bereits die körperliche Anwesenheit an einer Stelle, die ein anderer einnehmen oder passieren möchte, zur Erfüllung des Tatbestandsmerkmals der Gewalt genügt, falls der andere durch die Anwesenheit des Täters psychisch gehemmt wird, seinen Willen durchzusetzen.

Das Tatbestandsmerkmal der Gewalt wird dadurch in einer Weise entgrenzt, dass es die ihm vom Gesetzgeber zugedachte Funktion, unter den notwendigen, unvermeidlichen oder alltäglichen Zwangseinwirkungen auf die Willensfreiheit Dritter die strafwürdigen zu bestimmen, weitgehend verliert. Es bezieht zwangsläufig zahlreiche als sozialadäquat betrachtete Verhaltensweisen in den Tatbestand ein, deren Strafbarkeit erst durch das Korrektiv der Verwerflichkeitsklausel in § 240 Abs. 2 StGB ausgeschlossen wird. Der Bundesgerichtshof hat sich deshalb veranlasst gesehen, der Ausweitung des Gewaltbegriffs dadurch zu begegnen, dass er auf das "Gewicht" der psychischen Einwirkung abgestellt hat. Damit wird die Eingrenzungsfunktion aber einem Begriff aufgebürdet, der noch weit unschärfer ist als der der Gewalt. An einer befriedigenden Klärung, wann eine psychische Einwirkung gewichtig ist, fehlt es daher auch. Der Verweis auf das Korrektiv der Verwerflichkeit ist deswegen nicht geeignet, die rechtsstaatlichen Bedenken zu zerstreuen, denen die Ausweitung des Gewaltbegriffs durch die Rechtsprechung begegnet.

Die Auslegung des Gewaltbegriffs in der höchstrichterlichen Rechtsprechung hat folglich gerade jene Wirkungen, die zu verhüten Art. 103 Abs. 2 GG bestimmt ist. Es lässt sich nicht mehr mit ausreichender Sicherheit vorhersehen, welches körperliche Verhalten, das andere psychisch an der Durchsetzung ihres Willens hindert, verboten sein soll und welches nicht. In demjenigen Bereich, in dem die Gewalt lediglich in körperlicher Anwesenheit besteht und die Zwangswirkung auf den Genötigten nur psychischer Natur ist, wird die Strafbarkeit nicht mehr vor der Tat generell und abstrakt vom Gesetzgeber, sondern nach der Tat im konkreten Fall vom Richter aufgrund seiner Überzeugung von der Strafwürdigkeit eines Tuns bestimmt. Das eröffnet beträchtliche Spielräume bei der Strafverfolgung von Nötigungen. Die unterschiedliche Behandlung von Blockadeaktionen aus Protest gegen die atomare Nachrüstung einerseits und solchen zum Protest gegen Werksstillegungen, Gebührenerhöhungen, Subventionskürzungen oder Verkehrsplanungen andererseits belegt dies. Darauf hat auch der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in seiner Stellungnahme aufmerksam gemacht.

Die Ungewissheit, die dem erweiterten Gewaltbegriff anhaftet, ist auch nicht durch ein im Lauf der Zeit gefestigtes Verständnis seiner Bedeutung entfallen, zumal der Bundesgerichtshof in anderen Bereichen wie dem der Vergewaltigung von einem erheblich engeren Gewaltbegriff ausgeht (vgl. BGH, NJW 1981, S. 2204). Wie die eben erwähnten Beispiele zeigen, ist aber selbst die Strafbarkeit von Blockadeaktionen als Nötigung höchst ungewiss geblieben. Auch die fortbestehenden Divergenzen in Judikatur und Literatur hinsichtlich der strafrechtlichen Würdigung von Sitzdemonstrationen der vorliegenden Art (vgl. Schäfer, LK, a.a.O., Rdnr. 21 bis 27; Otto, NStZ 1992, S. 568) zeigen, dass sich eine gefestigte Rechtsauffassung bisher nicht hat bilden können.



Die erforderliche Bestimmtheit ergibt sich auch nicht daraus, dass aufgrund der höchstrichterlichen Rechtsprechung zumindest das Risiko der Bestrafung erkennbar ist. Abgesehen von der Fragwürdigkeit dieses Arguments, demzufolge das Risiko der Bestrafung um so höher ist, je vager ein Straftatbestand formuliert wird, kann es bei der Bestimmtheitsprüfung jedenfalls nur in bezug auf die Norm, nicht auch in bezug auf ihre Auslegung herangezogen werden. Das Bundesverfassungsgericht wollte mit dem Verweis auf die Erkennbarkeit des Risikos dem Umstand Rechnung tragen, dass der Gesetzgeber auch im Strafrecht vor der Notwendigkeit steht, die Vielgestaltigkeit des Lebens in generellen und abstrakten Normen einzufangen, und nur denjenigen Grad an tatbestandlicher Präzision aufbringen kann, den der Regelungsbereich zulässt (vgl. BVerfGE 71, 108 (115)). Insoweit hängt die verfassungsrechtlich verlangbare Bestimmtheit von der Möglichkeit der gesetzlichen Beschreibung des als strafwürdig angesehenen Verhaltens ab. Der Grundsatz kann aber nicht Auslegungen einer unvermeidlich vagen Strafnorm rechtfertigen, welche die Unbestimmtheit abermals erhöhen und sich damit noch weiter vom Ziel des Art. 103 Abs. 2 GG entfernen.

Schließlich lässt sich die Ausweitung des Gewaltbegriffs auch nicht damit rechtfertigen, dass andernfalls unerwünschte Strafbarkeitslücken aufträten. Selbst wenn es zutreffen sollte, dass das mit der weiten Auslegung der Norm erfasste Verhalten ähnlich strafwürdig ist wie das ihr unzweifelhaft unterfallende, bleibt es Sache des Gesetzgebers, die Strafbarkeitslücke zu schließen (vgl. BVerfGE 71, 108 (116) m.w.N.).

Die nunmehr notwendige Eingrenzung des Gewaltbegriffs in § 240 Abs. 1 StGB obliegt zuvörderst den Strafgerichten, nicht dem Bundesverfassungsgericht. Die Rechtswidrigkeit von Sitzdemonstrationen nach anderen Vorschriften bleibt von dieser Entscheidung unberührt.

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