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BGH Beschluss vom 21.03.1991 - 1 StR 3/90 - Zur Auslegung des Gewaltbegriffs in § 240 StGB bei Sitzblockaden

BGH v. 21.03.1991: Zur Auslegung des Gewaltbegriffs in § 240 StGB bei Sitzblockaden




Der BGH (Beschluss vom 21.03.1991 - 1 StR 3/90) hat entschieden:

   Der Nötigungserfolg einer Sitzblockade tritt auch dann ein, wenn die Polizei in einem unmittelbaren örtlich-zeitlichen Zusammenhang die Kraftfahrer, gegen die sich die Blockade richtet, anhält.

Siehe auch
Blockade-Aktionen / Protestblockaden / Sitzblockaden
und
Nötigung im Straßenverkehr

Gründe:


I.

Die fünf Angeklagten blockierten am 5.10.1987 gegen 6.05 Uhr zusammen mit 14 weiteren Demonstranten die Industriestraße zum Tor 1 der Baustelle der Wiederaufbereitungsanlage für Kernbrennstoffe in Wackersdorf; sie stellten Tische auf die Fahrbahn, ließen sich darauf auf Holzkisten nieder und nahmen ihr Frühstück ein. Sie wollten ankommende Baustellenfahrzeuge zum Anhalten zwingen, Flugblätter verteilen, die Fahrzeugführer zum Frühstück einladen und mit ihnen diskutieren. Diese Aktion sollte etwa eine Stunde dauern. Die Polizei war auf die Blockade vorbereitet. Zur Verhinderung gewaltsamer Konfrontationen zwischen Fahrern und Blockierern sperrte sie den Bereich um die Industriestraße großräumig ab. Etwa 200 bis 300 Meter vor der Blockade, von wo man die Demonstranten nicht sehen konnte, wies die Polizei u.a. sechs namentlich festgestellte Kraftfahrer an, mit ihren Fahrzeugen nicht weiterzufahren. Die Angeklagten kamen der Aufforderung der Polizei, die Fahrbahn zu verlassen, nicht nach und ließen sich absprachegemäß wegtragen. Die Fahrer, welche die Behinderung gleichgültig hinnahmen, konnten teilweise erst nach einer knappen Stunde weiterfahren. Wenigstens ein Kraftfahrer wurde von Polizeibeamten von der Blockade der Straße durch Demonstranten unterrichtet.


Das Amtsgericht Schwandorf hat die Angeklagten der gemeinschaftlichen versuchten Nötigung schuldig gesprochen und sie unter Strafvorbehalt verwarnt. In den Urteilsgründen hat es ausgeführt, daß eine vollendete Nötigung nicht vorliege, weil die Behinderung von den Kraftfahrern gleichgültig hingenommen worden und somit eine Zwangswirkung nicht eingetreten sei.

Auf die gegen dieses Urteil zu Ungunsten der Angekl. eingelegte, auf die Sachbeschwerde gestützte Revision der StA will das BayObLG die Verurteilung wegen versuchter Nötigung bestätigen; nach seiner Auffassung liegt eine vollendete Nötigung deshalb nicht vor, weil die Kraftfahrer die Weiterfahrt nicht aufgrund einer auf sie einwirkenden Gewalt der Straßenblockierer, sondern des Anhaltebefehls der Polizei unterließen. So zu entscheiden sieht sich das BayObLG durch das Urteil des OLG Stuttgart vom 25. 3. 1986 - I Ss 112/113/86 (Justiz 1986, 417) gehindert, in dem die Ansicht vertreten wird, das Dazwischentreten der Polizei habe den von den Blockierern in Gang gesetzten Kausalverlauf nicht unterbrochen; maßgeblich sei nur, ob die Kraftfahrer die - wie auch immer gewonnene - zutreffende Vorstellung davon hatten, daß ihnen durch das körperliche Hindernis der Blockade auf der Fahrbahn die Weiterfahrt ursächlich verwehrt und die Zwangswirkung herbeigeführt wurde. Das BayObLG hat die Sache deshalb gemäß § 121 Abs. 2 GVG dem BGH zur Entscheidung vorgelegt (NStZ 1990, 281):

   Ist ein Kraftfahrer zu einer Unterlassung genötigt, dem die Polizei 200 bis 300 Meter vor einer Sitzblockade die Weisung erteilt zu warten, er dabei aber auch Kenntnis von der Blockade hat?




II.

Die Voraussetzungen des § 121 Abs. 2 GVG sind erfüllt.

Das Bayerische Oberste Landesgericht kann nicht wie beabsichtigt entscheiden, ohne von der Rechtsansicht des Oberlandesgerichts Stuttgart abzuweichen. Der Senat teilt die Auffassung des vorlegenden Gerichts, daß es sich bei der entgegenstehenden Rechtsansicht des Oberlandesgerichts Stuttgart um einen im Sinne des § 358 Abs. 1 StPO bindenden Hinweis handelt. Das Oberlandesgericht Stuttgart hat, was zulässig ist (vgl. Pikart in KK 2. Aufl. § 358 Rdn. 5), die Aufhebung des amtsgerichtlichen Urteils gleichermaßen auf einen Verfahrensfehler und einen sachlich-rechtlichen Grund gestützt. Allerdings bestand der - auch - zur Aufhebung führende sachlich-rechtliche Mangel in der rechtsfehlerhaften Verwerflichkeitsprüfung (§ 240 Abs. 2 StGB) des Amtsgerichts, die sich indes an der vollendeten oder versuchten Verwirklichung des objektiven Tatbestandes der Nötigung (§ 240 Abs. 1 StGB) zu orientieren hatte. Die in einem - wie sich aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ergibt - vergleichbaren Falle dargelegte Rechtsansicht des Oberlandesgerichts Stuttgart, daß der Tatbestand der Nötigung erfüllt sei, wenn die Fahrzeuglenker die zutreffende Vorstellung vom Grund ihrer Hinderung an der Weiterfahrt hatten und die Handlung als verwerflich zu werten ist, war für das Amtsgericht unter der in der Revisionsentscheidung aufgeführten Voraussetzung gemäß § 358 Abs. 1 StPO bindend und steht daher der vom vorlegenden Gericht beabsichtigten Entscheidung entgegen (vgl. Salger in KK 2. Aufl. § 121 GVG Rdn. 38).




III.

In der Sache selbst vermag der Senat der vom Bayerischen Obersten Landesgericht vertretenen Rechtsauffassung nicht beizutreten.

1. Nach gefestigter Rechtsprechung erfüllt den Tatbestand des § 240 Abs. 1 StGB, wer im Rahmen eines "Sitzstreiks" oder einer "Sitzblockade" gemeinschaftlich mit anderen durch das Sitzen auf der Fahrbahn andere Verkehrsteilnehmer an der Weiterfahrt hindert (vgl. BGHSt 23, 46, 54; 35, 270, 274; BVerfGE 73, 206, 239 f.; 76, 211, 216 [BVerfG 14.07.1987 - 1 BvR 242/86]; vgl. auch BVerfG, StV 1990, 491 f.). Durch dieses Verhalten nötigt er durch Gewalt einen anderen zu einem Verhalten, das dieser nicht will, und greift hierdurch in die durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Freiheit der Willensentscheidung und Willensbetätigung ein, die durch § 240 StGB strafrechtlich geschützt wird. Mit dem Versammeln auf der Straße und dem Setzen auf die Fahrbahn ist zwar nur ein geringer körperlicher Kraftaufwand verbunden, der bei bloßer Berücksichtigung der physischen Kräfteverhältnisse nicht stets ausreichen würde, den Fahrer einer Straßenbahn oder eines sonstigen Kraftfahrzeugs an der Weiterfahrt zu hindern; doch werden dadurch zumindest auch psychische Barrieren errichtet, die eine vergleichbare Wirkung wie physisch unüberwindbare Hindernisse erreichen. Die Wirkung, die von dem Verhalten der auf der Fahrbahn Sitzenden ausgeht, steht einer körperlichen Einwirkung gleich. Von der Person, gegen die sie gerichtet ist, wird sie nicht nur als seelischer, sondern auch als körperlicher Zwang empfunden (vgl. BGHSt 23, 46, 54; 126, 127). Die mit einer Sitzblockade verbundene Ansammlung von Menschen auf der Fahrbahn stellt sich für den Nötigungsadressaten als unüberwindliches Hindernis dar, das ihn an der Weiterfahrt hindert.

2. § 240 StGB ist als Erfolgsdelikt ausgestaltet (vgl. Müller-Dietz in Lexikon des Rechts, Strafrecht/Strafverfahrensrecht, S. 586). Die Gewaltanwendung muß im kausalen Sinne zu dem vom Täter angestrebten Verhalten des Opfers führen. Führt das Nötigungsmittel nicht zum Erfolg oder beruht das Opferverhalten auf einem anderen Umstand, ist die Tat nicht vollendet; es kommt nur Versuch in Betracht (Müller-Dietz, a.a.O..).




Vollendet ist daher auch in Fällen der vorliegenden Art die Nötigung nur dann, wenn der durch die Sitzblockade bezweckte Erfolg - Anhalten der Fahrzeuge, Nichtweiterfahrt - aufgrund der Sitzblockade eingetreten ist. Es genügt allerdings nicht jede kausale Verknüpfung zwischen Blockade und Nötigungserfolg. Die Abgrenzung von Versuch und Vollendung der Tat hängt im einzelnen Falle vielmehr davon ab, ob der für eine Nötigung mit Gewalt erforderliche spezifische Zusammenhang zwischen der Nötigungshandlung (Hindernisbereiten) und dem Nötigungserfolg (Anhalten der Kraftfahrer) als gewahrt erscheint. Das ist zwar unzweifelhaft der Fall, wenn es zu einer unmittelbaren Konfrontation zwischen den Blockierern und den Kraftfahrern kommt und der von den Blockierern erstrebte Nötigungserfolg infolge dieser Konfrontation eintritt. Doch ist die Annahme von Tatbestandsvollendung nicht auf diese - enge - Fallkonstellation beschränkt. So werden bei Fahrbahnblockaden regelmäßig nur die zuerst ankommenden Kraftfahrer durch unmittelbare Konfrontation mit dem Hindernis zum Anhalten gezwungen; der von den Blockierern zum Anhalten geschaffene Zwang setzt sich indes, vermittelt durch bereits angehaltene Kraftfahrzeuge, auch bis zu jenen Kraftfahrern fort, die später am Ende des Staus ankommen und aufgrund der vor ihnen haltenden Fahrzeuge nicht weiterfahren können. Auch wenn diese die auf der Fahrbahn sitzenden Blockierer nicht sehen können oder sonst die Ursache des Staus nicht kennen, sind sie im Sinne des Nötigungstatbestandes durch das Tatverhalten der Blockierer genötigt. Dieses Ergebnis läßt sich nicht mit der Erwägung in Zweifel ziehen, die Willensentscheidung zum Anhalten sei nicht deshalb getroffen worden, weil das Opfer das Verhalten der Blockierer unmittelbar als körperlichen Zwang empfunden und sich ihm bewußt gebeugt habe, sondern infolge der zwar abgenötigten, aber autonom getroffenen Willensentscheidung der Kraftfahrer, die bereits ihr Fahrzeug angehalten hatten. Eine lebensnahe und auch die Intention der Blockierer berücksichtigende Wertung ergibt ohne weiteres, daß der für eine Nötigung mit Gewalt erforderliche spezifische Zusammenhang zwischen Nötigungshandlung und Nötigungserfolg als gewahrt erscheint und der Nötigungserfolg den Blockierern zuzurechnen ist. Nicht wesentlich anders ist die im Ausgangsverfahren gegebene Fallgestaltung zu beurteilen, in der die Polizei Kenntnis von einer Sitzblockade hatte und sich entschloß, die Fahrbahn zu räumen und inzwischen, bis die erforderlichen Vorkehrungen getroffen worden sind, die Kraftfahrer, die die blockierte Fahrbahn benutzen wollten, schon 200 bis 300 Meter vor der Sitzblockade durch Anhalten am Weiterfahren zu hindern, um eine Konfrontation mit den Blockierern zu vermeiden und so insbesondere auch deren Leben und Gesundheit zu schützen. Die Polizei hat in einem unmittelbaren örtlich-zeitlichen Zusammenhang mit der Sitzblockade die Kraftfahrer, gegen die sich die Blockade richtete, angehalten. Damit ist der von den Blockierern erstrebte Nötigungserfolg, wenn auch nicht in dem von ihnen gewünschten Umfang, eingetreten. Sie hatten durch ihre Ansammlung auf der Fahrbahn ein unüberwindliches Hindernis bereitet, das für die Nötigungsadressaten eine Wahl, die ihnen das polizeiliche Anhaltegebot hätte abnehmen können, ohnehin nicht mehr zuließ. Ein derartiges Vorgehen der Polizei entspricht ihrer gesetzlichen Aufgabe und liegt im Rahmen der - auch den Blockierern üblicherweise bekannten - polizeilichen Praxis. Mit dem OLG Stuttgart ist der Senat der Auffassung, daß in einem derartigen Falle der für eine Nötigung durch Gewalt erforderliche spezifische Zusammenhang zwischen der Nötigungshandlung und dem eingetretenen, den Hindernisbereitern zuzurechnenden Nötigungserfolg gewahrt ist mit der Folge, daß nicht nur versuchte, sondern vollendete Nötigung i. S. des § 240 Abs. 1 StGB vorliegt.



3. Daher hat der Senat die Vorlegungsfrage in Übereinstimmung mit der Rechtsansicht des Oberlandesgerichts Stuttgart wie aus der Entscheidungsformel ersichtlich entschieden.

Demgegenüber hat der Generalbundesanwalt beantragt zu beschließen:

   "Ein Kraftfahrer, dem die Polizei 200 bis 300 Meter vor einer Sitzblockade die Weisung erteilt zu warten und der dabei auch Kenntnis von der Blockade hat, ist nicht zu einer Unterlassung genötigt."


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