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Oberlandesgericht München Urteil vom 01.12.2021 - 10 U 1833/21 - Zur Haftungsabwägung bei Unfall mit rückwärts Ausparkendem

OLG München v. 01.12.2021: Zur Haftungsabwägung bei Unfall mit rückwärts Ausparkendem




Das Oberlandesgericht München (Urteil vom 01.12.2021 - 10 U 1833/21) hat entschieden:

   Die Regeln der StVO sind auf öffentlich zugänglichem Parkplatz grundsätzlich anwendbar. Soweit aus dieser grundsätzlichen Anwendbarkeit jedoch teilweise gefolgert wird, dass § 9 V StVO auf Parkplätzen unmittelbar anwendbar ist, folgt der Senat dieser Meinung nicht. Die wohl überwiegende Auffassung stellt darauf ab, dass die Vorschrift primär dem Schutz des fließenden und deshalb typischerweise schnelleren Verkehrs dient und mithin bei einem Parkplatzunfall nicht unmittelbar anwendbar ist. Auf Parkplätzen ohne eindeutigen Straßencharakter ist anstelle des § 9 V StVO das Gebot der allgemeinen Rücksichtnahme nach § 1 II StVO zu beachten.

Siehe auch
Rückwärts Ausparken aus Parklücken
und
Grundregel des Straßenverkehrs - gegenseitige Rücksichtnahme und Vermeidung von Behinderungen, Gefährdungen, Belästigungen und Schäden

Entscheidungsgründe:


A.

Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 544 II Nr. 1 ZPO).

B.

Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg.

I. Das Landgericht hat zu Unrecht die Betriebsgefahr des Klägerfahrzeugs im Rahmen der Abwägung der jeweiligen Verursachungsbeiträge mit einer Haftungsquote von 25% berücksichtigt und folglich zu Unrecht die Klage teilweise abgewiesen.



1. Da die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs entstanden sind und die Ersatzpflicht weder wegen Vorliegens höherer Gewalt nach § 7 II StVG ausgeschlossen ist, noch ein unabwendbares Ereignis für einen der beiden Fahrzeugführer nach § 17 III StVG vorliegt, hängt die Schadensersatzpflicht nach §§ 17 I, 18 III StVG im Verhältnis der Klägerin zu den Beklagten von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Die Beteiligten haben dabei jeweils die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen sie die nach der Abwägung für sich günstigen Rechtsfolgen herleiten wollen (OLG Düsseldorf, Urteil vom 19.12.2017 - I-1 U 84/17 -, Rn. 16, juris mit Verweis auf BGH, Urteile vom 15. November 1960 - VI ZR 30/60 - VersR 1961, 249, 250; vom 8. Januar 1963 - VI ZR 35/62 - VersR 1963, 285, 286; vom 23. November 1965 a.a.O S. 165; vom 29. November 1977 - VI ZR 51/76 - VersR 1978, 183, 185).

2. Der Klägerin gelang der Nachweis, dass der Beklagte zu 1) gegen die Vorschrift des § 1 II StVO, die vorliegend ergänzend im Lichte der Rechtsgedanken des § 9 Abs. 5 StVO auszulegen ist, verstoßen hat.

Aufgrund der Angaben der Unfallparteien (vgl. S. 2 ff. der Sitzungsniederschrift des Erstgerichts vom 12.02.2021, Bl. 114 ff. d. LG-A.) und aufgrund der ergänzenden Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. R. in der mündlichen Verhandlung vom 01.12.2021 (vgl. S. 4 der entsprechenden Sitzungsniederschrift, Bl. 44 d. OLG-A.) geht der Senat davon aus, dass der Beklagte zu 1) mit seinem Fahrzeug jedenfalls aus seinem Stellplatz rückwärts ausgefahren ist und die Klägerin spätestens im Zuge der Rückwärtsfahrt hätte erkennen und durch ein Anhalten den Unfall vermeiden können. Denn für den Fall, dass sich das Klägerfahrzeug schon im Bereich kurz vor Einfahrt in den Gefahrenbereich hinter dem Beklagtenfahrzeug befunden hat, führte der Sachverständige nachvollziehbar und überzeugend aus, dass dann das Klägerfahrzeug für den Beklagten zu 1) schon bei Abfahrt des Beklagten nach hinten sichtbar gewesen wäre (vgl. S. 4 der Sitzungsniederschrift vom 01.12.2021, Bl. 44 d. OLG-A.). Weiter führte der Sachverständige nachvollziehbar und überzeugend aus, dass in jedem anderen Fall das Klägerfahrzeug für den Beklagten zu 1) während der Rückwärtsfahrt, nachdem das Beklagtenfahrzeug etwas mehr als die Hälfte der Fahrzeuglänge nach hinten gefahren war, auch während der Annäherung sichtbar gewesen wäre, da spätestens eine halbe Fahrzeuglänge vor Kollisionskontakt sich das Klägerfahrzeug selbst bei der günstigen Betrachtung für die Beklagtenseite unmittelbar hinter dem Klägerfahrzeug befunden hat (vgl. S. 4 der Sitzungsniederschrift vom 01.12.2021, Bl. 44 d. OLG-A.). Somit wäre der Unfall für den Beklagten zu 1) entsprechend den Ausführungen des Sachverständigen immer vermeidbar gewesen, da es in jedem Fall gereicht hätte, wenn der Beklagte zu 1) kurz vor Kollisionskontakt stehen geblieben wäre.


Somit hat der Beklagte zu 1) gegen die Vorschrift des § 1 II StVO, die vorliegend ergänzend im Lichte der Rechtsgedanken des § 9 Abs. 5 StVO auszulegen ist, verstoßen. Die Regeln der StVO sind auf öffentlich zugänglichem Parkplatz grundsätzlich anwendbar. Soweit aus dieser grundsätzlichen Anwendbarkeit jedoch teilweise gefolgert wird, dass § 9 V StVO auf Parkplätzen unmittelbar anwendbar ist, folgt der Senat dieser Meinung nicht. Die wohl überwiegende Auffassung stellt darauf ab, dass die Vorschrift primär dem Schutz des fließenden und deshalb typischerweise schnelleren Verkehrs dient und mithin bei einem Parkplatzunfall nicht unmittelbar anwendbar ist. Auf Parkplätzen ohne eindeutigen Straßencharakter ist anstelle des § 9 V StVO das Gebot der allgemeinen Rücksichtnahme nach § 1 II StVO zu beachten. Danach muss sich ein Verkehrsteilnehmer so verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr als unvermeidbar behindert oder belästigt wird. Nach dieser Ansicht soll die Vorschrift des § 9 V StVO bei Unfällen auf Parkplätzen allerdings mittelbar anwendbar oder deren Wertung im Rahmen der Pflichtenkonkretisierung nach § 1 II StVO zu berücksichtigen sein. Da auf Parkplätzen stets mit ausparkenden und rückwärtsfahrenden Fahrzeugen zu rechnen ist, müssen Kraftfahrer hier so vorsichtig fahren, dass sie jederzeit anhalten können. Das gilt in besonderem Maße für den rückwärtsfahrenden Verkehrsteilnehmer. Bei ihm ist die besondere Gefährlichkeit des Rückwärtsfahrens mit einzubeziehen, die wegen des eingeschränkten Sichtfeldes des Rückwärtsfahrenden für den rückwärtigen Verkehr besteht. Entsprechend der Wertung des § 9 V StVO muss er sich deshalb so verhalten, dass er sein Fahrzeug notfalls sofort anhalten kann. Dies hat der Beklagte zu 1) bei seinem Ausparkvorgang schuldhaft nicht beachtet.

3. Dem gegenüber ist es den Beklagten nicht gelungen, einen Verstoß der Klägerin gegen § 1 Abs. 2 StVO nachzuweisen. Ein derartiger Verstoß käme nur dann in Betracht, wenn die Klägerin zumindest die angeschalteten Rückfahrscheinwerfer oder sogar eine Rückwärtsfahrt zu einem Zeitpunkt hätte erkennen können, als ihr das Abstoppen vor dem Bereich hinter dem Beklagtenfahrzeug noch möglich gewesen wäre.

Da der Sachverständige ausgeführt hat, dass es für die Frage der Sichtbarkeit des Beklagten zu 1) in seinem Fahrzeug darauf ankommt, ob rechts neben dem Beklagtenfahrzeug ein weiteres Fahrzeug geparkt war (vgl. S. 4 der Sitzungsniederschrift vom 01.12.2021, Bl. 44 d. OLG-A.) und dies aber aufgrund der widersprüchlichen Angaben der Klägerin und des Beklagten zu 1) hierzu nicht mehr aufgeklärt werden konnte, spielt diese Frage für die Entscheidung keine Rolle. Die Klägerin hat hierzu angegeben, dass der betreffende Parkplatz frei gewesen sei (vgl. S. 2 der Sitzungsniederschrift vom 12.02.2021, Bl. 114 d. LG-A.). Dem widersprechend hat der Beklagte zu 1) angegeben, dass auf dem betreffenden Parkplatz ein Fahrzeug geparkt habe (vgl. S. 3 der Sitzungsniederschrift vom 12.02.2021, Bl. 115 d. LG-A.). Unabhängig hiervon stellt jedoch alleine die Tatsache, dass jemand in einem geparkten Fahrzeug sitzt, noch keine Reaktionsaufforderung für den fließenden Verkehr dar.

Es konnte ebenfalls nicht geklärt werden, in welchem Abstand die beiden an dem streitgegenständlichen Unfall beteiligten Fahrzeuge sich jeweils zueinander befunden haben, als der Beklagte zu 1) die Rückfahrscheinwerfer betätigte bzw. nach rückwärts angefahren ist. Dies ergibt sich bereits daraus, dass der Beklagte zu 1) selbst bei seiner Anhörung vor dem Erstgericht keinerlei belastbare Angaben darüber machte, ab wann in Relation zum Klägerfahrzeug und wie er tatsächlich rückwärtsgefahren ist. Letztendlich beschränkt sich die Aussage des Beklagten zu 1) darin, dass er den Rückwärtsgang eingelegt und die Rückwärtskamera aktiviert und schließlich nur wegen des Hupens der Klägerin angehalten habe (vgl. S. 3 f. der Sitzungsniederschrift vom 12.02.2021, Bl. 115 f. d. LG-A.). Daraus ergibt sich, dass sich der Beklagte zu 1) offensichtlich während der Rückwärtsfahrt weder umgedreht noch alternativ in den Bildschirm der Rückwärtskamera geschaut hat. Es gibt daher keinen gesicherten Nachweis dafür, dass die Klägerin bei ihrem Einfahren in den Bereich hinter dem Beklagtenfahrzeug schon erkennen hätte können, dass der Beklagte zu 1) zurückfahren will. Soweit der Beklagte zu 1) gemeint hat, dass die Klägerin in dem Augenblick, in dem er bereits rückwärtsgefahren ist, in den Bereich hinter dem Beklagtenfahrzeug gefahren sein müsse (vgl. S. 3 der Sitzungsniederschrift vom 12.02.2021, Bl. 115 d. LG-A.), handelt es sich um eine durch nichts belegte Mutmaßung des Beklagten zu 1). Denn wie vorstehend dargestellt wurde, hat der Beklagte zu 1) während seiner Rückwärtsfahrt den rückwärtigen Verkehrsbereich in keiner Weise beobachtet, so dass dieser aus diesem Grund auch keine belastbaren Angaben zu der Positionierung und dem Fahrverhalten des Klägerfahrzeuges machen konnte.

Ein Verstoß der Klägerin gegen § 1 Abs. 2 StVO scheidet somit aus.

4. Im Rahmen der Abwägung der jeweiligen Verursachungsbeiträge tritt vorliegend im Hinblick auf den schweren Verstoß des Beklagten zu 1) gegen § 1 II StVO, wonach er trotz der Rückfahrkamera während der Rückwärtsfahrt den Verkehr hinter ihm überhaupt nicht beobachtet hat, die Haftung der Klägerin aus Betriebsgefahr dahinter vollständig zurück. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass der Unfall für die Klägerin ab dem Zeitpunkt, zu dem sich das Klägerfahrzeug in dem Bereich hinter dem Beklagtenfahrzeug befunden hat, nicht mehr vermeidbar im Sinne des § 17 III StVG gewesen ist. Entsprechend den nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen gilt dies unabhängig davon, ob die Klägerin gestanden oder ob sie noch leicht in Bewegung gewesen ist. Denn bei beiden Alternativen hätte sich die Kollision ebenso ereignet, es wäre dann bei der punktuellen Beschädigung an der Seitenwand hinten rechts geblieben mit wenigen Zentimetern Verschiebung (vgl. S. 3 der Sitzungsniederschrift vom 01.12.2021, Bl. 43 d. OLG-A.).

Entgegen der Auffassung des Erstgerichts kann der Klägerin unter Zugrundelegung des Maßstabes einer Idealfahrerin auch kein Vorwurf dadurch gemacht werden, dass sie mit dem Klägerfahrzeug zum Zwecke des eigenen rückwärtigen Einparkens in den Bereich hinter dem Beklagtenfahrzeug gefahren ist. Denn es obliegt nicht dem Beklagten zu 1), der Klägerin die Entscheidung des Vorwärts- oder des Rückwärtseinparkens vorzuschreiben. Vielmehr ist es der Klägerin vorliegend bei Unterstellung eines vorsichtigen und dem Parkplatz angemessenen Fahrens grundsätzlich freigestanden, sich für ein Rückwärtseinparken zu entscheiden und hierzu zunächst in den Bereich hinter dem Beklagtenfahrzeug zu fahren, da der Klägerin, wie vorstehend unter 3. ausgeführt wurde, nicht nachgewiesen werden konnte, dass sie zu diesem Zeitpunkt erkennen konnte, dass der Beklagte zu 1) mit dem Beklagtenfahrzeug ausparkt bzw. ausparken will.

5. Somit haften die Beklagten entgegen dem Ersturteil für den bei dem Unfall entstandenen Schaden vollständig, so dass die Berufung vollumfänglich begründet ist.



II. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 I, 92 II Nr. 1 ZPO.

III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Ersturteils und dieses Urteils beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 544 II Nr. 1 ZPO.

IV. Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.

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