Das Verkehrslexikon

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Grundregel des Straßenverkehrs - gegenseitige Rücksichtnahme

Grundregel des Straßenverkehrs - gegenseitige Rücksichtnahme und Vermeidung von Behinderungen, Gefährdungen, Belästigungen und Schäden


§ 1 StVO bestimmt als Grundregeln des Straßenverkehrs:

  1.  Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.

  2.  Jeder Verkehrsteilnehmer hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.



Gliederung:


-   Einleitung
-   Beispiele aus der Rechtsprechung



Einleitung:


Es werden im folgenden gelegentlich Gerichtsentscheidungen gesammelt, die die verschiedensten straßenverkehrsrechtlichen Situationen unter dem Gesichtspunkt von Regelverstößen gegen § 1 Abs. 1 und 2 StVO beleuchten.

Oft ist der Kampf eines Betroffenen im Bußgeldverfahren deshalb lohnend, um ein bestimmtes Verhalten nur nach § 1 Abs. 2 StVO geahndet zu bekommen anstatt nach einer Spezialbestimmung, die gleichzeitig mit dem Erwerb von Punkten sanktioniert wäre. Für einen fahrlässigen Verstoß gegen die Grundregel des Verkehrs ist lediglich ein Verwarnungsgeld fällig.


Allerdings soll auch umgekehrt nicht zusätzlich ein tateinheitlicher Verstoß gegen § 1 StVO angenommen werden, wenn ein Verhalten eindeutig durch eine Spezialnorm sanktioniert ist, vgl. BGH (Beschluss vom 09.12.1986 - 4 StR 436/86):

   "Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats, mit Hilfe des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts, seiner Anwendung und Auslegung, ein verkehrsgerechtes Miteinander aller Verkehrsteilnehmer auf den öffentlichen Straßen durchzusetzen und damit die Verkehrssicherheit zu stärken. Deshalb sind alle Umstände des Einzelfalles zu bewerten, wenn auf die Grundregel zusätzlich zu dem Verstoß gegen eine spezielle Norm zur Ahndung eines ordnungswidrigen Verkehrsverhaltens zurückgegriffen werden soll."

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Beispiele aus der Rechtsprechung:


BGH v. 05.11.1970:
Die Verhinderung weiterer Straftaten mag eine erwünschte Nebenfolge der vorläufigen Festnahme sein. Damit wird aber nicht selbständig ein Festnahmerecht begründet. Die Befugnis aus § 127 Abs. 1 StPO ist nicht dazu da, dem Einzelnen Rechte zuzubilligen, die dem Staat zustehen. Es ist allein Aufgabe des Staates, insbesondere der Polizei, Straftaten zu verhindern. Das vorläufige Festnahmerecht kann daher nicht dazu führen, die einzelnen Staatsbürger zu Staatsorganen zu machen, die im Wege des Handelns für den Staat die öffentliche Ordnung aufrecht erhalten und die Befolgung der Gesetze mit Gewalt erzwingen. Es besteht Anlass zu dem Hinweis, dass es grundsätzlich nicht dem Belieben eines jeden überlassen sein darf, dadurch erziehend und belehrend auf andere Verkehrsteilnehmer einzuwirken, dass er Zwangsmittel anwendet.




BGH v. 15.12.1970:
Kommt ein Fahrzeug aus zwingenden Gründen auf der Autobahn unter teilweiser Inanspruchnahme der Fahrspur zum Halten, so muss der Fahrer mit allen ihm möglichen und zumutbaren Mitteln dafür sorgen, dass der nachfolgende Verkehr gewarnt wird.

BGH v. 11.03.1971:
Hat sich der Fahrer eines am rechten Straßenrand haltenden Wagens ohne Öffnen der Tür durch einen Blick von dem Herannahen eines Verkehrsteilnehmers überzeugt, dann darf er die Tür seines Wagens nicht öffnen, ehe nicht der gesichtete Verkehrsteilnehmer vorbeigefahren und gewährleistet ist, dass dieser nicht durch das Öffnen der Tür gefährdet werden kann.

BGH v. 11.05.1971:
Die Regel, dass ein Kraftfahrer, der bei Grünlicht in eine Kreuzung einfahren will, zunächst dem in der Kreuzung "hängengebliebenen" Querverkehr die Möglichkeit geben muss, die Kreuzung zu verlassen, gilt auch dann, wenn die Fahrbahnen einer der sich kreuzenden Straßen durch einen im Kreuzungsbereich unterbrochenen Grünstreifen (hier von 3 m Breite) getrennt sind und der kreuzende Verkehr (insbesondere Linksabbieger) den Bereich der Unterbrechung des Mittelstreifens freizumachen hat. Andererseits darf der in der Kreuzung aufgehaltene Nachzügler sein Recht zur Weiterfahrt nicht erzwingen. Er muss sich vorsichtig verhalten und darf nicht blindlings darauf vertrauen, dass er vorgelassen werde.

BGH v. 09.12.1986:
Wer die Überholspur einer Autobahn länger als nach der Verkehrslage geboten, befährt, verstößt gegen das Rechtsfahrgebot des StVO § 2 Abs 2 und ist allein wegen dieses Verstoßes zur Rechenschaft zu ziehen, auch wenn er durch seine Fahrweise nachfolgende Verkehrsteilnehmer am Überholen gehindert hat, sofern das Überholen nur durch Überschreiten der höchstzulässigen Geschwindigkeit möglich gewesen wäre.

BGH v. 23.06.1987:
Der Kraftfahrer hat gemäß StVO §§ 1, 3 Abs 1 S 3 seine Fahrweise so einzurichten, dass er auch in der Dunkelheit vor auf der Straße liegengebliebenen Kraftfahrzeugen, mögen sie auch unbeleuchtet und zudem - wie ein Panzer - mit einem Tarnanstrich versehen sein, rechtzeitig anhalten kann.

BGH v. 25.01.1994:
szlig;erorts nach links in eine bevorrechtigte Straße einfahren will, die bis zu einer 80 m entfernten Kurve einsehbar ist, braucht bei normalen Lichtverhältnissen am Tage keinen Einweiser zu Hilfe zu nehmen. Fährt der Einbiegende, der einen auf der Vorfahrtstraße herannahenden Kraftfahrer wegen einer Kurve noch nicht sehen kann, berechtigt in die Vorfahrtstraße ein, so erlischt das Vorfahrtrecht des Herannahenden mit der Folge, dass sich die beiderseitigen Verhaltenspflichten nunmehr nach StVO § 1 richten. Der Fahrer eines schwerfälligen Fahrzeugs, der berechtigt in eine Vorfahrtstraße nach links einbiegen will, muss in der Regel sofort anhalten, sobald ein auf der Vorfahrtstraße herannahender Verkehrsteilnehmer für ihn sichtbar wird. Er darf den Einbiegevorgang nur dann fortsetzen, wenn er nach der Verkehrslage darauf vertrauen kann, dass er die Fahrbahn für den herannahenden Verkehrsteilnehmer rechtzeitig frei machen kann.

BGH v. 04.11.2008:
Zur Rücksichtnahme von Radfahrern gegenüber Fußgängern auf - lediglich farblich getrennten - Rad- und Fußwegen im Sinne des Zeichens 241 zu § 41 Abs. 2 Nr. 5 StVO.

OLG Karlsruhe v. 23.05.2012:
§ 1 Abs. 1 und 2 StVO enthalten Grundregeln, die auch für den Verkehr auf nichtöffentlichen Flächen Bedeutung haben. Das Vorsichts- und Rücksichtnahmegebot sowie das Verbot, andere zu schädigen, zu gefährden, vermeidbar zu behindern oder zu belästigen, können bei der Beurteilung der Frage, inwieweit jeder der Unfallbeteiligten zum konkreten Unfallgeschehen beigetragen hat, nicht unberücksichtigt bleiben. Gleiches gilt für den Rechtsgedanken, dass derjenige, der die Sorgfalt außer Acht lässt, die in der konkreten Situation erforderlich erscheint, um sich selbst vor Schaden zu bewahren, den Verlust oder die Kürzung seines Schadensersatzanspruches hinnehmen muss.




VGH München v. 02.07.2014:
Ein Fußgänger verstöößt gegen § 11 Abs. 3 Halbsatz 1 StVO, wenn er sich weigerte, die Straßenbahngleise zu verlassen, um einer wartenden Straßenbahn die Weiterfahrt zu ermöglichen, und ihn die im Rahmen des Straßenmusikfestivals zu diesem Zweck eingesetzten Ordner dazu auffordern, und er stattdessen auf dem Recht beharrte, einer Musikdarbietung auch auf den Gleisen zuzuhören.

OLG Koblenz v. 11.08.2014:
Biegt ein Fahrzeugführer auf einer Kreuzung ab, obwohl er in Fahrtrichtung wegen der Sonne keinerlei Sicht hat, so ist dieser "Blindflug" als Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO zu werten.

VG Schwerin v. 14.09.2016:
In besonders gelagerten Fällen kann ein Halten oder Parken auch dann, wenn es durch keine der Einzelvorschriften des § 12 StVO verboten wird, unzulässig sein, weil es andere gefährdet oder mehr als unvermeidbar behindert. Grundsätzlich muss der fließende Verkehr die Behinderungen hinnehmen, die von einem Halten oder Parken ausgehen, das nach der ins einzelne gehenden Regelung des § 12 Abs. 1 und 3 StVO nicht unzulässig ist. Etwas anderes gilt aber (und nur), wenn im Einzelfall besondere Umstände die Prüfung nahelegen, ob durch das Parken oder Halten auf der Fahrbahn der fließende Verkehr nicht in unzumutbarer Weise behindert wird.

Liegt ausnahmsweise ein Einzelfall vor, in dem das Parken zwar nicht nach § 12 StVO, jedoch nach der allgemeinen Grundregel des § 1 Abs. 2 StVO verboten ist, kann das gebührenpflichtige Umsetzen des Fahrzeugs rechtmäßig sein.

LG Potsdam v. 29.05.2019:
Kommt es in einer schmalen Straße nach dem unvollständigen Ausweichen eines entgegenkommendes Kfz in eine Parklücke beim Wiederanfahren des auf den Einparkvorgang Wartenden zu einer Kollision der Fahrzeuge, wobei ein Rückwärtsfahren des Ausweichenden zwar nicht ausgeschlossen, jedoch auch nicht positiv festgestellt werden kann, haftet der Wiederanfahrende wegen Verstoßes gegen § 1 Abs. 2 StVO zu 2/3, der Ausweichende aus der Betriebsgefahr zu 1/3.

OLG München v. 01.12.2021:
Die Regeln der StVO sind auf öffentlich zugänglichem Parkplatz grundsätzlich anwendbar. Soweit aus dieser grundsätzlichen Anwendbarkeit jedoch teilweise gefolgert wird, dass § 9 V StVO auf Parkplätzen unmittelbar anwendbar ist, folgt der Senat dieser Meinung nicht. Die wohl überwiegende Auffassung stellt darauf ab, dass die Vorschrift primär dem Schutz des fließenden und deshalb typischerweise schnelleren Verkehrs dient und mithin bei einem Parkplatzunfall nicht unmittelbar anwendbar ist. Auf Parkplätzen ohne eindeutigen Straßencharakter ist anstelle des § 9 V StVO das Gebot der allgemeinen Rücksichtnahme nach § 1 II StVO zu beachten.

BGH v. 08.03.2022:
Bei einer beidseitigen Fahrbahnverengung (Gefahrenzeichen 120 nach Anlage 1 zu § 40 Abs. 6 und 7 StVO) gilt das Gebot der wechselseitigen Rücksichtnahme (§ 1 StVO). Ein regelhafter Vorrang eines der beiden bisherigen Fahrstreifen besteht nicht.

OLG München v. 06.04.2022::
Auf einem Tankstellengelände ist – im Rahmen des Gebots der gegenseitigen Rücksichtnahme aus § 1 Abs. 2 StVO – auch dann eine besondere Sorgfalt beim Anfahren erforderlich, wenn § 10 StVO im Bereich der Zapfsäulen – mangels fließenden Verkehrs – nicht anwendbar ist.




BGH v. 22.11.2022:
Die Vorfahrtsregel des § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO ("rechts vor links") findet auf öffentlichen Parkplätzen ohne ausdrückliche Vorfahrtsregelung weder unmittelbar noch im Rahmen der Pflichtenkonkretisierung nach § 1 Abs. 2 StVO Anwendung, soweit den dort vorhandenen Fahrspuren kein eindeutiger Straßencharakter zukommt.

OLG Celle v. 15.02.2023:
  1.  Beim Vorbeifahren an Müllfahrzeugen im Einsatz muss nicht stets oder in der Regel Schrittgeschwindigkeit oder ein Sicherheitsabstand von 2 m eingehalten werden (a.A. z.B. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 26. Juli 2018 - 1 U 117/17, juris); maßgeblich sind vielmehr die jeweiligen Umstände des Einzelfalls, u.a. die örtlichen Gegebenheiten und etwaige Wahrnehmungen des Fahrzeugführers. Die Reduzierung der Geschwindigkeit auf 13 km/h kann ausreichend sein.

  2.  Die Privilegierung des § 35 Abs. 6 StVO begründet keine Befreiung vom allgemeinen Rücksichtnahmegebot des § 1 StVO. Ein Müllwerker, der auf der Fahrbahn einen großen, schweren Müllrollcontainer hinter dem Müllfahrzeug hervorschiebt, ohne auf den Verkehr zu achten, verstößt gegen § 1 Abs. 2 StVO.


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