Ärzte und Taxifahrer sind die hauptsächlichen Kandidaten, die sich nach einer Geschwindigkeitsüberschreitung zur Vermeidung eines Fahrverbots auf Hilfeleistung in notstandsähnlichen Situationen berufen.
Ärzte übersehen dabei oft, dass es viel schneller und effektiver ist, einen Notarzt zu einem Kranken zu rufen, als selbst unter eigener und fremder Gefährdung und zudem meistens ohne messbaren Zeitgewinn zu einem Kranken zu "rasen".
In jedem Fall müssen die den Notstand begründenden Tatsachen festgestellt werden; sofern sich der Betroffene in einem Verbotsirrtum befand, muss dessen Vermeidbarkeit sorgfältig geprüft werden, bevor einfach von einem Regelfahrverbot abgesehen werden kann.
OLG Naumburg v. 15.10.1996:
Ein Geschwindigkeitsverstoß, der auf der BAB begangen wird, um die durch einen nahezu auf 2 m auffahrenden Lkw geschaffene Gefahr eines Auffahrunfalls zu beseitigen, kann gem. §§ 15, 16 OWiG gerechtfertigt sein, auch die zulässige Höchstgeschwindigkeit um mehr als 30 km/h überschritten wird
OLG Karlsruhe v. 08.08.2005:
Eine das Absehen von der Verhängung eines Fahrverbots rechtfertigende notstandsähnliche Situation liegt vor, wenn ein Vater aus Sorge um sein verunfalltes Kind die zulässige Höchstgeschwindigkeit im Straßenverkehr überschreitet und die sofortige Hilfeleistung durch ihn zwingend erforderlich gewesen war und / oder er vom Vorliegen einer solchen Gefahrensituation ausgehen durfte.
OLG Hamm v. 04.03.2009:
Der Tatrichter muss für seine Überzeugung vom Vorliegen eines Ausnahmefalles für die Verhängung eines Fahrverbots eine auf Tatsachen gestützte Begründung geben, die sich nicht nur in einer unkritischen Wiedergabe der Einlassung des Betroffenen erschöpfen darf. Zwar ist es dem Tatrichter nicht schlechthin verwehrt, einer Behauptung zu glauben. Entlastende Angaben des Betroffenen, der sich auf das Vorliegen einer persönlichen Ausnahmesituation beruft und regelmäßig ein großes Interesse daran haben wird, der Verhängung eines Fahrverbotes zu entgehen, dürfen jedoch nicht ohne weitere Prüfung hingenommen werden; ggf. muss darüber Beweis erhoben werden.
AG Lüdinghausen v. 17.02.2014:
Ein starker Stuhldrang als Ursache einer Geschwindigkeitsüberschreitung führt nicht zum Absehen vom Regelfahrverbot aus dem Gesichtspunkt einer so genannten "notstandsähnlichen Situation", wenn der Betroffene sich dahin eingelassen hat, er habe bereits vor Erreichen der Geschwindigkeitsbegrenzungszone Probleme in seinem Darm wahrgenommen, unter denen er bereits seit geraumer Zeit leide.
OLG Brandenburg v. 25.02.2019:
Das Absehen vom Regelfahrverbot erfordert vom Tatrichter Feststellungen dazu, wann und wo der Betroffene die Fahrt angetreten hat und wie lange er bereits unterwegs gewesen war, um festzustellen, ob es ihm bereits vor Fahrtantritt oder während der Fahrt zu einem früheren Zeitpunkt möglich war, seine Notdurft zu verrichten. Darüber hinaus sind Feststellungen zu treffen, warum der Betroffene nicht an einem anderen Ort, den er mit angemessener Geschwindigkeit hätte erreichen können, seine Notdurft verrichtet hat.
OLG Karlsruhe v. 10.11.2004:
Ausführlich zum Begründungszwang, wenn vom Regelfahrverbot abgesehen werden soll und zur notstandsähnlichen Situation eines Arztes
OLG Köln v. 02.05.2005:
Die Möglichkeit, einen Notarzt zu rufen, schließt nicht aus, dass sich ein Arzt, der auf dem Weg zu einem Notfallpatienten einen Geschwindigkeitsverstoß begeht, in einer notstandsähnlichen Situation befinden oder sich über das Vorliegen einer solchen in einem Irrtum befinden kann. Allerdings muss abgewogen werden, ob die erhoffte Zeitersparnis überhaupt geeignet ist, eine erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung zu rechtfertigen.
OLG Düsseldorf v. 22.12.1994:
Die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit durch einen Taxifahrer, der eine schwangere Frau in das Krankenhaus befördert und wegen einsetzender Wehen um deren Leben und Gesundheit fürchtet, kann wegen Notstands im Sinne des § 16 OWiG gerechtfertigt sein
AG Weißenfels v. 25.05.1999:
Kein Fahrverbot für einen Taxifahrer, der einen Fahrgast wegen eines Schwächeanfalls in eine Klinik bringt und dabei zu schnell fährt.
OLG Bamberg v. 04.09.2013:
Die durch ein Übergeben eines betrunkenes Fahrgastes befürchtete Verunreinigung des Wageninnenraums eines Taxis vermag eine zur schnelleren Erreichung der nächstgelegenen Autobahnausfahrt begangene Geschwindigkeitsüberschreitung regelmäßig schon mangels Geeignetheit des zur Gefahrenabwehr eingesetzten Mittels nicht nach § 16 OWiG zu rechtfertigen.