Auch wenn nicht schematisch von einer sog. Harmlosigkeitsgrenze auszugehen ist, obliegt dem Geschädigten dennoch die volle Beweislast für die objektive Verursachung einer HWS-Distorsion durch den Unfall. Der Beweis ist nicht erbracht, wenn ein unfallanalytisches und biomechanisches Sachverständigengutachten zu dem Ergebnis kommt, dass die Unfallbedingtheit zwar ohne weiteres möglich ist, jedoch auch andere Ursachen für die Beschwerden in Betracht kommen.
Zum Sachverhalt: Dem Kläger wurde in erster Instanz Schadensersatz wegen eines Halswirbelsäulen-Schleudertraumas zugesprochen. Das Landgericht hatte die Kausalität zum Unfall bejaht.
Hiergegen richtete sich die erfolgreiche Berufung der Beklagten.
Das OLG hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen unfallanalytischen und biomechanischen Gutachtens eines Sachverständigen.
Aus den Entscheidungsgründen:
"Die zulässige Berufung ist begründet.
Dem Kläger steht der mit der Klage geltend gemachte Anspruch auf Schadensersatz in Form von entstandenen Heilbehandlungskosten und Verdienstausfall sowie Schmerzensgeld gem. den § 7 Abs. 1, 18, 11 StVG, §§ 1, 3 Pflichtversicherungsgesetz, § 823 BGB aus dem Verkehrsunfall vom 12.06.2004 nicht zu, da ihm der Nachweis nicht gelungen ist, dass die von ihm behaupteten Beschwerden auf den Verkehrsunfall vom 12.06.2004 zurückzuführen sind.
Dabei ist zu sehen, dass die Frage, ob sich der Kläger bei dem Unfall überhaupt die von ihm behaupteten Verletzungen zugezogen hat, die haftungsbegründende Kausalität betrifft. Die Frage unterliegt somit den strengen Anforderungen des Vollbeweises gem. § 286 ZPO. Danach hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhaltes der Verhandlung und des Ergebnisses der Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht für wahr zu erachten ist. Die nach § 286 ZPO erforderliche Überzeugung des Richters erfordert keine absolute oder unumstößliche Gewissheit und auch keine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (vgl. BGH Urteil vom 08.07.2008, VI ZR 274/07 ).
Einen solchen für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit dahingehend, dass die vom Kläger behauptete HWS-Distorsion und die damit verbundene behauptete unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit auf den hier streitgegenständlichen Verkehrsunfall zurückzuführen sind, hat sich für den Senat nach der durchgeführten Beweisaufnahme nicht ergeben. So kommt der Sachverständigen Dipl.-Ing. S.… in seinem schriftlichen Gutachten zu dem Ergebnis, dass auf den Kläger allenfalls eine Drehgeschwindigkeit von Delta-V zwischen 2,0 bis 3,5 eingewirkt hat. Aus seiner Sicht sind daher die vom Kläger behaupteten gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht auf den Unfall zurückzuführen, da diese Einwirkung zu geringfügig war. Dem hat der medizinische Sachverständigen Dr. B.… in seiner mündlichen Einvernahme vor dem Senat entgegengehalten, dass man in der neueren Literatur bereits bei Delta-Werten von 3–5 die Möglichkeit einer HWS-Distorsion annimmt.
Auch der Senat lehnt in diesem Zusammenhang die schematische Annahme einer Harmlosigkeitsgrenze ab (so auch BGH im Urteil vom 03.06.2008) VI ZR 253/07). Bei der Prüfung, ob ein Unfall eine HWS-Verletzung verursacht hat, sind vielmehr stets die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen (vgl. BGH-Urteil vom 08.07.2008, VI ZR 274/07 ). Zu sehen ist aber, dass je geringer die Krafteinwirkungen sind, die auf den Geschädigten während des Unfalls einwirken, um so höher die Anforderungen an den brauchbaren Grad von Gewissheit zu stellen sind, der für den Nachweis der Unfallursächlichkeit der behaupteten Verletzungen zu fordern ist.
Vorliegend hat der Sachverständigen Dr. B.… in seiner Anhörung vor dem Senat weiter eingeräumt, dass er zwar von einer Unfallursächlichkeit der Beschwerden des Klägers ausgeht, diesbezüglich aber kein objektiver Nachweis in Gestalt eines Röntgenbildes oder einer MRT-Aufnahme vorläge. Vielmehr beruhe seine Annahme der Unfallursächlichkeit schlichtweg darauf, dass in der neueren Literatur HWS-Schädigungen auch bei sehr geringen Krafteinwirkungen nicht mehr ausgeschlossen werden und die ehemals angenommene „Harmlosigkeitsgrenze“ von immer mehr Stimmen in der Wissenschaft verneint werde. Letztendlich musste der Sachverständige Dr. B.… aber auch einräumen, dass sich der Kläger diese Beschwerden auch anders habe zuziehen können, z.B. durch eine ungeschickte Bewegung.
Letztendlich stellt somit auch nach Dr. B.… die Möglichkeit der Unfallbedingtheit der vom Kläger behaupteten Verletzungen nur eine Möglichkeit unter mehreren dar. Dies stellt aber für den Senat keinen brauchbaren Grad an Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet, dar.
Daran vermag auch nichts die vom Erstgericht vorgenommene Einvernahme des sachverständigen Zeugen Dr. J.… zu ändern, der den Kläger als erster behandelt hat. Gleiches gilt für die Aussage des vom Erstgericht einvernommenen Zeugen Dr. Z.…, bei dem der Kläger später vorstellig wurde, sowie dessen ärztlicher Bericht gegenüber der Beklagten zu 3), welche als Anlage K 2 (Bd. I, Bl. 11 d.A.) vorgelegt wurde. Zwar kamen beide sachverständige Zeugen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass eine unfallbedingte HWS-Distorsion vorgelegen habe, bzw. massive Schmerzen und Einschränkungen der HWS-Beweglichkeit. Zu sehen ist dabei insoweit, dass die Diagnosen der beiden sachverständigen Zeugen letztendlich allein auf den Angaben des Klägers beruht haben. Sie haben insoweit keine eigenen Feststellungen im Bereich der Diagnose getroffen. Dies ist auch folgerichtig, da der Arzt, der einen Unfallgeschädigten untersucht und behandelt, diesen nicht aus Sicht eines Gutachters betrachtet, sondern ihn als Therapeut behandelt. Für ihn steht im Mittelpunkt die Therapie, während der Benennung der Diagnose als solche für ihn zunächst von untergeordneter Bedeutung ist. Deshalb sind zeitnah nach dem Unfall erstellte ärztliche Atteste hier von untergeordneter Bedeutung. Eine ausschlaggebende Bedeutung kommt solchen Diagnosen im Allgemeinen nicht zu (vgl. BGH-Urteil vom 03.06.2008 VI ZR 235/07 ).
Auf die Berufung der Beklagten hin war somit das erstinstanzliche Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen. ..."