Zur Frage der Haftungsverteilung bei einer Kollision zwischen einem auf einem Privatweg rückwärts fahrenden und einem aus einer Hofeinfahrt im spitzen Winkel hierzu rückwärts auf den Privatweg einfahrenden PKW.
Gründe:
I. Die Klägerin verlangt von den Beklagten restliche 50 % ihres Schadens in Höhe von (1 895,04 EUR × 50 % =) 947,52 EUR sowie vorgerichtliche Anwaltskosten von 74,25 EUR jeweils nebst gesetzlichen Zinsen aus einem Verkehrsunfall verlangt, der sich am 21.1.2008 auf der gemeinsamen Zufahrt zu ihren beiden Hausanwesen ereignet hat. Bei der gemeinsamen Zufahrt handelt es sich um einen Privatweg, der nur zu dem vorderen, seitlich neben dem Weg liegenden Grundstück der Klägerin und dem am Ende des Weges liegenden Grundstück der Beklagten führt. Zu dem Unfall kam es, als die Klägerin mit ihrem PKW (…) aus der Hofeinfahrt ihres Anwesens rückwärts auf den Privatweg fuhr und hierbei mit dem bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten PKW der Erstbeklagten (…), die ebenfalls von ihrem Anwesen aus rückwärts auf dem Weg fuhr, kollidierte.
Die Klägerin hat vorgetragen, sie sei langsam aus ihrer Einfahrt ausgefahren und habe sich rückwärtig vergewissert, dass die Ausfahrt frei war. Beim Rückwärtsfahren habe sie die ebenfalls rückwärts fahrende Erstbeklagte kommen sehen, ihr Fahrzeug sofort angehalten und gehupt, um die Erstbeklagte auf ihr Fahrzeug aufmerksam zu machen. Diese sei dennoch weiter rückwärts gefahren und auf das stehende Fahrzeug der Klägerin aufgefahren.
Die Beklagten, die vorgerichtlich den Schaden auf der Grundlage einer hälftigen Haftung reguliert hatten, haben behauptet, die Erstbeklagte sei unter ständiger Beobachtung des hinter ihr liegenden Verkehrsraumes mit Hilfe der Spiegel zurückgefahren, als die Klägerin von links rückwärts aus spitzem Winkel in den Privatweg eingefahren sei.
Das Erstgericht, auf dessen Feststellungen im Übrigen Bezug genommen wird, hat die Klage abgewiesen. Die Beklagten hafteten lediglich in hälftiger Höhe, weil beide Fahrzeugführer verkehrswidrig gehandelt hätten. Zwar habe die Erstbeklagte gegen § 9 Abs. 5 StVO verstoßen, indem sie rückwärts gegen das stehende Fahrzeug der Klägerin gefahren sei. Aber auch die Klägerin sei gem. § 9 Abs. 5 StVO zu höchstmöglicher Sorgfalt verpflichtet gewesen und hätte sich mit Blick auf die nur eingeschränkte Sicht in den Privatweg einweisen lassen müssen, was sie unterlassen hätte.
Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin ihren Klageantrag weiter. Sie meint, der Privatweg sei kein öffentlicher Verkehrsraum, so dass die StVO schon nicht zur Anwendung komme. Im Übrigen sei ein Verschulden der Klägerin nicht festzustellen, da diese im Anstoßzeitpunkt gestanden habe.
II.
Die Berufung der Klägerin ist zulässig aber nicht begründet. Die erstinstanzliche Entscheidung ist jedenfalls im Ergebnis zutreffend.
1. Mit Recht ist das Erstgericht zunächst davon ausgegangen, dass die Parteien grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gem. §§ 7, 17 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i.V.m. § 115 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und er für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG darstellte. Soweit die Klägerin demgegenüber meint, für sie sei der Unfall unabwendbar gewesen, kann dem nicht gefolgt werden. Ein solches unabwendbares Ereignis setzt voraus, dass der Unfall auch bei Einhaltung der äußersten möglichen Sorgfalt durch einen Idealfahrer nicht abgewendet werden kann. Hierzu gehört ein sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln erheblich über den Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt im Sinne von § 276 BGB hinaus (vgl. zu § 7 Abs. 2 StVG a.F.: BGHZ 117, 337, VersR 1987, 158, 159 m.w.N.; BGHZ 113, 164, 165 ). Dass die Klägerin indes derart sorgfältig gehandelt hätte, ist nicht erwiesen. Insbesondere hat die Klägerin nicht dargelegt, zumindest aber nicht beweisen können, dass sie sich in die unübersichtliche Ausfahrt äußerst sorgfältig und unter Hinzuziehung eines Einweisers hineingetastet oder bei Erkennen des Beklagtenfahrzeuges Warnzeichen gegeben hätte. Da sie für das Vorliegen eines für sie unabwendbaren Ereignisses darlegungs- und beweispflichtig ist, geht dies zu ihren Lasten.
2. Im Rahmen der daher gem. § 17 Abs. 1, 2 StVG gebotenen Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile der Unfallbeteiligten hat das Erstgericht auf Beklagtenseite ein Verschulden bejaht, weil diese die beim Rückwärtsfahren gebotene Sorgfalt nicht eingehalten hat. Dies begegnet im Ergebnis keinen Bedenken.
a) Allerdings ist zweifelhaft, ob ein solcher Verstoß vorliegend unmittelbar auf § 9 Abs. 5 StVO gestützt werden kann. Zunächst ist schon fraglich, ob der Privatweg, der letztlich eine Grundstückseinfahrt für zwei verschiedene Grundstücke darstellt, überhaupt öffentlicher Verkehrsraum ist, was aber Voraussetzung für Anwendung der Straßenverkehrordnung ist (vgl. hierzu BayObLG VRS 64, 375, wonach die Zufahrt zu mehr als einem Wohnhaus immer öffentlichen Verkehrsgrund darstellen soll; vgl. hierzu aber auch BGH DAR 2004, 529 und die Nachweise bei Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl., § 1 StVO Rdn. 15/16). Zum anderen dient der zu Beginn geschotterte, später in Rasen und einzelne Platten übergehende Privatweg nach seiner gesamten Ausgestaltung allein den Bewohnern der beiden Wohnanwesen und deren Gästen, mithin nicht dem fließenden Verkehr. Ähnlich wie auf einem Parkplatz (vgl. hierzu die Nachweise bei Hentschel aaO § 8 Rdn. 31a) dient der Privatweg daher allein dem Zugang zum ruhenden Verkehr, so dass die Sorgfaltspflichten der diesen Weg benutzenden Kraftfahrer ähnlich wie auf einem Parkplatz einander angenähert sind. Demgegenüber regelt die Vorschrift des § 9 Abs. 5 StVO die besondere Sorgfaltspflicht des Rückwärtsfahrenden gegenüber dem fließenden und deshalb in der Regel rascheren Verkehr. Auf einem Parkplatz oder einem sonstigen Gelände muss jedoch anders als im fließenden Verkehr jederzeit mit rangierenden und damit auch rückwärts fahrenden Fahrzeugen gerechnet werden, so dass § 9 Abs. 5 StVO und der dem rückwärts Fahrenden auferlegte Gefährdungsausschluss nur eingeschränkt anwendbar ist (vgl. Geigel/Zieres, Der Haftpflichtprozess, 25. Aufl., 27. Kap. Rdn. 302; Hentschel aaO § 9 StVO Rdn. 51 und § 8 Rdn. 31a jew. m.w.N.).
b) Letztlich kommt es auf die Frage, ob § 9 Abs. 5 StVO unmittelbar Anwendung findet, im Streitfall nicht an. Sowohl außerhalb des öffentlichen Verkehrsraums (vgl. OLG Hamm VersR 1981, 842; Hentschel aaO § 9 StVO Rdn. 51) als auch im Bereich von vorrangig dem ruhenden Verkehr dienenden Gelände (vgl. Urteil der Kammer vom 14.11.2008 – 13 S 126/08; Hentschel aaO § 8 StVO Rdn. 31a) ist der Rückwärtsfahrende verpflichtet, besondere Sorgfalt walten zu lassen. Da beim Rückwärtsfahren die Sichtverhältnisse gegenüber dem Vorwärtsfahren nicht unerheblich eingeschränkt sind, wohnt diesem Fahrmanöver eine höhere Gefahr als dem vorwärts fahrenden Fahrzeug inne; den Rückwärtsfahrenden trifft daher eine vergleichsweise höhere Sorgfaltspflicht. Hiergegen hat die Erstbeklagte verstoßen, indem sie nicht mit der gebotenen Aufmerksamkeit gefahren ist. Vielmehr hat die Erstbeklagte das Klägerfahrzeug erst bemerkt, als es zum Anstoß kam. Damit trifft sie ein gewichtiges Verschulden an dem Unfallgeschehen.
3. Aber auch die Klägerin trifft – wie das Erstgericht im Ergebnis zu Recht angenommen hat – ein nicht weniger gravierender Sorgfaltsverstoß.
a) Allerdings ist zweifelhaft, ob der Klägerin ein Verstoß gegen ihre Sorgfaltspflicht beim Rückwärtsfahren angelastet werden kann. Das Erstgericht ist auf der Grundlage der Sachverständigenfeststellungen davon ausgegangen, dass die Klägerin ihr Fahrzeug vor der Kollision noch angehalten hatte, mithin noch rechtzeitig reagiert hatte. Im unmittelbaren Anwendungsbereich des § 9 Abs. 5 StVO, also bei einer Gefährdung des fließenden Verkehrs, ist dies regelmäßig ohne Belang. Für den fließenden Verkehr stellt sich ein rückwärts fahrendes Fahrzeug stets als potentielles Hindernis dar, mit dem nicht gerechnet werden muss. Bei einem Unfall, der sich im unmittelbarem zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit der Rückwärtsbewegung eines Fahrzeuges erfolgt, kann daher typischerweise davon ausgegangen werden, dass sich die Gefahr des Rückwärtsfahrens realisiert hat und deshalb ein Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Rückwärtsfahrenden spricht, auch wenn dieser kurz vor der Kollision noch angehalten hatte (vgl. KG VRS 108, 190; LG Bonn, Urteil vom 21.1.2009 – 10 S 107/08, JURIS; Hentschel aaO § 9 StVO Rdn. 55 a.E., jew. m.w.N.).
Ob dies indes auch gilt, wenn ein Zusammenstoß von Fahrzeugen beim Rückwärtsfahren auf einem Parkplatz oder – wie hier – auf einem anderen, vorrangig dem ruhenden Verkehr dienenden Gelände erfolgt (so LG Bad Kreuznach ZfS 2007, 559 m. zust. Anmerkung Nugel in jurisPR-VerkR 1/2010 Anm. 3; so auch LG Kleve, Urteil vom 11.11.2009 – 5 S 88/09; Urteil vom 25.7.2007, JURIS), ist zweifelhaft. Anders als bei der Gefährdung des fließenden Verkehrs durch ein rückwärts fahrendes Fahrzeug ist nämlich die Sorgfaltspflicht der Kraftfahrer auf Geländen, die dem ruhenden Verkehr dienen, angenähert. Gerade auf Parkplätzen müssen die dort befindlichen Kraftfahrer stets mit ausparkenden und rückwärts fahrenden Fahrzeugen rechnen. Sie müssen daher mit Blick auf das Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme i.S.d. § 1 StVO so vorsichtig fahren, dass sie jederzeit anhalten können. Die besondere Gefährdung des Rückwärtsfahrens besteht damit vorrangig in dem eingeschränkten Gesichtsfeld nach hinten, nicht aber – wie beim fließenden Verkehr – darin, dass der fließende und damit raschere Verkehr weniger schnell auf ein rückwärts fahrendes Fahrzeug reagieren kann. Gelingt es dem Kraftfahrer, der auf einem vorwiegend dem ruhenden Verkehr dienenden Gelände rückwärts fährt, sein Fahrzeug rechtzeitig vor einer Kollision zum Stehen zu bringen, wird er seiner Verpflichtung zum jederzeitigen Anhalten gerecht. Deshalb erscheint es nach Auffassung der Kammer naheliegend, dass die besondere Gefährdung des Rückwärtsfahrens entfällt, wenn dem Rücksichtnahmegebot entsprechend vor der Kollision angehalten wird.
b) Die Frage bedarf hier indes keiner abschließenden Entscheidung. Denn aufgrund der Örtlichkeit – die Grundstückseinfahrt der Klägerin stößt in spitzem Winkel auf den Zufahrtsweg – bestand vorliegend eine besondere Rücksichtspflicht der Klägerin aus dem Rechtsgedanken des § 10 StVO. Nach dieser Vorschrift, die unmittelbar ebenfalls nur im Verhältnis zum fließenden Verkehr gilt, muss derjenige, der aus einem Grundstück oder anderen, nicht dem fließenden Verkehr dienenden Verkehrsflächen auf die Fahrbahn einfahren will, ein Höchstmaß an Sorgfalt einhalten, nötigenfalls sich einweisen lassen. Hier bestand die Besonderheit, dass die Sicht der Klägerin bei Einfahren in den Zufahrtsweg aufgrund einer Hecke und eines Zaunes, aber auch aufgrund des spitzen Einfahrwinkels stark eingeschränkt war, so dass sie – auch wenn sie vorwärts gefahren wäre – ein vom hinteren Grundstück herannahendes Fahrzeug erst im letzten Augenblick erkennen konnte. Deshalb genügte sie ihrer Sorgfaltspflicht nicht dadurch, dass sie – wie sich aus der vom Sachverständigen rekonstruierten Kollisionsstellung (S. 30 des Gutachtens) ergibt – bereits weit in die Zufahrt und damit in den Fahrweg der Erstbeklagten einfuhr und dann anhielt. Ungeachtet der Frage, ob sie sich – wie das Erstgericht annimmt – hätte einweisen lassen müssen, hätte sie im Rahmen der gegenseitigen Rücksichtnahmepflicht i.S.d. § 1 Abs. 2 StVO jedenfalls sicherstellen müssen, dass sie in den Fahrweg nur dann einfuhr, wenn eine Gefährdung eines etwaig herannahenden Fahrzeuges damit ausgeschlossen war. Indem sie dies unterlassen hat, trifft sie ein Sorgfaltspflichtverstoß. Weil der Verkehrsverstoß bereits darin liegt, dass sie unvorsichtig in den Fahrweg eingefahren ist und damit für das herannahende Fahrzeug der Erstbeklagten ein plötzliches Hindernis geschaffen hatte, kommt es nicht mehr entscheidend darauf an, dass sie ihr Fahrzeug vorkollisionär zum Stillstand bringen konnte. Die Klägerin trifft daher ein ebenfalls nicht unerheblicher Anteil an der Verursachung des Unfallgeschehens.
4. Die Annahme des Erstgerichts, letztlich von einer Schadensteilung auszugehen, ist vor diesem Hintergrund nicht zu beanstanden. Zwar wiegt das unachtsame Rückwärtsfahren der Erstbeklagten schwer. Dadurch dass die Klägerin jedoch unachtsam in den Privatweg einfuhr und hierdurch ein plötzliches Hindernis für die Erstbeklagte schuf, ist ihr Verursachungsanteil letztlich gleichwertig, so dass sie mehr als die vorgerichtlich regulierten 50 % ihres Schadens nicht von der Beklagtenseite ersetzt verlangen kann und die Klageabweisung daher zu Recht erfolgt ist.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO, die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO, § 26 Nr. 8 EGZPO. Die Revision war nicht zuzulassen, da die Sache keine grundsätzliche Bedeutung hat und sie keine Veranlassung gibt, eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung herbeizuführen ( § 543 Abs. 2 ZPO ).