Eine Ermessensreduzierung auf Null bei der Entscheidung über ein Absehen vom Mindestalter für den Fahrerlaubniserwerb kommt für die Führerscheinbehörde nur in Betracht, wenn bei dem Fahrerlaubnisbewerber außergewöhnliche, von der Situation Gleichaltriger wesentlich abweichende Umstände vorliegen, die für ihn bzw. seine Familie eine unzumutbare Härte darstellen. Eine die Ausnahme begründende besondere Härte liegt nicht vor, wenn am Ausbildungsort eine Übernachtungsmöglichkeit besteht und die Inanspruchnahme zumutbar ist.
Gründe:
Der Antrag der Antragstellerin,den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu verpflichten, ihr eine Ausnahmegenehmigung vom Mindestalter für das unbegleitete Fahren von Fahrzeugen der Klasse B zu erteilten, soweit sie von ihrer Heimatadresse zu ihrer Schule nach Morsbach-Alzen fährt,ist zulässig, aber unbegründet.
Nach der hier allein in Betracht kommenden Vorschrift des § 123 Abs. 1 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis - nur - erlassen werden, wenn diese zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Die Notwendigkeit der vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) und der geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung - ZPO). Dabei ist das Gericht entsprechend dem Sicherungszweck des Anordnungsverfahrens grundsätzlich auf den Ausspruch einer vorläufigen Regelung beschränkt, die der Entscheidung über das Rechtsschutzbegehren im Hauptsacheverfahren nicht vorgreifen darf. Wegen des verfassungsrechtlichen Gebots effektiver Rechtsschutzgewährung, Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz - GG -, wird eine solche Vorwegnahme der Hauptsache dann als zulässig erachtet, wenn ein wirksamer Rechtsschutz im ordentlichen Verfahren nicht erreichbar ist und dies für den Antragsteller zu schlechthin unzumutbaren Folgen führen würde. Ob eine derartige Ausnahmesituation nach den Umständen des Einzelfalles angenommen werden kann ist unter anderem abhängig von der Bedeutung und Dringlichkeit des Rechtsschutzes, des Tragweite und eventuellen Irreparabilität des drohenden Schadens und nicht zuletzt von einer Vorausbeurteilung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache.
Die Antragstellerin hat hier bereits einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht.
Es besteht die überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass ihr gegen den Antragsgegner ein Anspruch auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung vom Mindestalter für das unbegleitete Fahren von Fahrzeugen der Klasse B (sogenannte Streckengenehmigung) nicht zusteht.
Die Erteilung einer solchen Ausnahmegenehmigung nach §§ 74 Abs. 1 Nr. 1, 10, 48 a FeV steht im Ermessen des Antragsgegners. Ein Genehmigungsanspruch entsteht für die Antragstellerin danach nur dann, wenn jede andere Entscheidung der Fahrerlaubnisbehörde als die Genehmigung der Ausnahme rechtswidrig wäre (sogenannte Ermessensreduzierung auf Null).
Es ist im vorliegenden Fall nicht festzustellen, dass der Antragsgegner auf der Grundlage des Erlasses des Ministeriums für Bauen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen vom 17.12.2008 (Az.:III.6-2101/2.1) über "Ausnahmen vom vorgeschriebenen Mindestalter bei der Führerscheinklasse B; "Streckenführerschein" oder einer ständigen Verwaltungspraxis in Verbindung mit dem Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verpflichtet wäre, die Ausnahmegenehmigung zu erteilen.
Aus dem Erlass des Ministeriums für Bauen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen lässt sich - unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles - keine Ermessensreduzierung auf Null für die Erteilung der Ausnahmegenehmigung herleiten. Denn dass bei der Antragstellerin außergewöhnliche, von der Situation Gleichaltriger wesentlich abweichende Umstände vorliegen, die für sie bzw. ihre Familie eine unzumutbare Härte darstellen, hat der Antragsgegner zutreffend nicht festgestellt.
Insoweit ist zunächst festzustellen, dass nichts dafür ersichtlich ist, dass der Erlass nicht mit dem Zweck der Ermächtigung - Ausnahmen vom Mindestalter nach § 10 FeV im Einzelfall zuzulassen - im Einklang steht, wenn dort insbesondere ausgeführt wird, dass wegen des besonderen Risikos junger Fahranfänger und der erheblichen Bedeutung der körperlichen und geistigen Reife für ein sicheres Führen von Kraftfahrzeugen, bei der Erteilung einer Ausnahme vom Mindestalter grundsätzlich Zurückhaltung zu üben (Ziffer 4 des Erlasses) und eines - von mehreren - Kriterien im Rahmen der Entscheidung ist, ob es zumutbare Übernachtungsmöglichkeiten am Ausbildungsort gibt (Ziffer 5).
Im vorliegenden Fall steht der Antragstellerin eine Übernachtungsmöglichkeit an ihrem Ausbildungsort, dem Internat in Morsbach-Alzen, das sie in der Klasse 11 als Tagesschülerin besucht, zur Verfügung. Dass ihr die Inanspruchnahme dieser Übernachtungsmöglichkeit nicht zumutbar ist, hat die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht. Eine Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme einer Übernachtungsmöglichkeit wird sich je nach Lage des Einzelfalles zwar auch aus finanziellen Erwägungen ergeben können, nicht zuletzt dann, wenn eine Finanzierung tatsächlich unmöglich ist oder sich eine solche nach Lage der Dinge als völlig unverhältnismäßig darstellt. Dass eine solche Konstellation hier gegeben ist, ist jedoch nicht ansatzweise erkennbar. Es fehlt insoweit an einer substantiierter Darlegung und Glaubhaftmachung durch die Antragstellerin. Allein aus der Höhe der zusätzlichen Kosten für eine Internatsunterbringung lässt sich eine Unzumutbarkeit jedenfalls nicht begründen.
Darüber hinaus hat der Antragsgegner auf eine weitere Übernachtungsmöglichkeit durch Anmietung eines Zimmers in Morsbach-Alzen hingewiesen. Nicht erkennbar ist insoweit, dass Einkäufe nicht durch die Eltern der Antragstellerin erledigt werden könnten bzw. mit einem Fahrzeug der Fahrerlaubnisklasse, das die Antragstellerin bereits mit 17 Jahren allein fahren kann.
Zudem ist nichts dargelegt, was dagegen spricht, dass die Antragstellerin von ihren Eltern noch vor deren Arbeitsbeginn zur Schule gebracht wird. Es erscheint insbesondere nicht als unzumutbare Härte, wenn die Antragstellerin schon deutlich vor dem Unterrichtsbeginn im Internat eintrifft. Auch ist weder hinreichend substantiiert dargelegt noch glaubhaft gemacht worden, dass der Arbeitsbeginn beider Elternteile zwingend um 7:00 Uhr bzw. 7:30 Uhr erfolgen muss. Die Eltern der Antragstellerin sind nach eigenem Vortrag selbständig und damit nicht arbeitgeberseitig durch fest vorgegebene Arbeitszeiten gebunden. Auch ist nicht dargelegt, inwieweit Betriebsabläufe des Unternehmens den frühen Arbeitsbeginn beider Elternteile erfordern bzw. nicht jedenfalls durch eine zumutbare Umorganisation ein etwas späterer Arbeitsbeginn eines Elternteils ermöglicht werden kann.
Das alles gilt um so mehr, als es sich lediglich um einen vorübergehenden Zeitraum bis zum 18. Geburtstag der Antragstellerin handelt. Auch für den noch verbleibenden Zeitraum haben die Antragstellerin und ihre Familie danach die Konsequenzen aus der Schulwahl zu tragen.
Zwar sind auch die Beeinträchtigungen zu berücksichtigen, die sich für die Familie der Antragstellerin ergeben. Ein rein organisatorischer Vorteil für eine Familie vermag jedenfalls für sich genommen noch keine Härte und damit keinen Anspruch auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung zu begründen. Denn der Antragsteller muss alle zumutbaren Möglichkeiten nutzen, um den Ausbildungsort ohne Ausnahmegenehmigung zu erreichen,vgl. VG Augsburg, Beschluss vom 24.01.2003 - Au 3 E 03.1 -; VG Braunschweig vom 18.02.2008 - 6 B 411/07 -, juris.Ein Anspruch ergibt sich vorliegend auch nicht aus einer ständigen Verwaltungspraxis in Verbindung mit dem Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG).
Dem Verwaltungsvorgang des Antragsgegners ist zur Frage der Verwaltungspraxis zu entnehmen, dass bisher noch keinem Internatsschüler eine Ausnahmegenehmigung erteilt worden ist (vgl. Vermerk vom 10.11.2009, Bl. 22 des Verwaltungsvorganges). Die von der Antragstellerin benannten Fälle der Erteilung von Ausnahmegenehmigungen durch den Antragsgegner betreffen auch allesamt keine Internatsschüler und unterscheiden sich nach Angaben des Antragsgegners von dem vorliegenden Fall im Übrigen auch dadurch, dass die Auszubildenden zu besonderen Zeiten und an wechselnden Orten ihre Ausbildung durchführen. Bereits dies spricht gegen einer Vergleichbarkeit der Fälle.
Will man dem eine Verwaltungspraxis entnehmen, so existiert jedenfalls keine, nach der Internatsschülern bei vergleichbarer Sachlage eine Ausnahmegenehmigung erteilt wird. Würde durch den Antragsgegner hingegen regelmäßig Auszubildenden, die sich in einer Berufsausbildung befinden, trotz zumutbarer Unterbringungsmöglichkeit am Ort der Ausbildung eine Ausnahmegenehmigung erteilt, was danach bislang aber ebenfalls nicht erkennbar ist, könnte sich die Antragstellerin als Internatsschülerin darauf schon nicht berufen und zudem - in Anbetracht der Rechtswidrigkeit einer solchen Verwaltungspraxis - keine Gleichbehandlung im Unrecht beanspruchen.
Selbst wenn sich das bisherige Verwaltungshandeln des Antragsgegners - mangels tatsächlicher einheitlicher Verwaltungspraxis - hier als willkürlich darstellen sollte, ergäbe sich daraus jedenfalls kein Anspruch auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 3 Nr. 2 GKG und entspricht dem in einem Haupt-sacheverfahren anzusetzenden Betrag, da eine Vorwegnahme der Hauptsache beantragt war.