Das Verkehrslexikon

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Verwaltungsgericht Aachen Beschluss vom 04.02.2019 - 3 K 4955/17 - Kein Umtausch von im Ursprungsland bereits entzogenen Fahrberechtigungen

VG Aachen v. 04.02.2019: Kein Umtausch von im Ursprungsland bereits entzogenen Fahrberechtigungen


Das Verwaltungsgericht Aachen (Beschluss vom 04.02.2019 - 3 K 4955/17) hat entschieden:

   Es bedarf der Klärung durch den Europäischen Gerichtshof, ob ein Mitgliedstaat die Anerkennung eines umgetauschten Führerscheindokuments ablehnen darf, wenn der Umtausch durch den Ausstellerstaat zu einem Zeitpunkt erfolgt ist, in welchem der Mitgliedstaat, von dem die materielle Fahrberechtigung herrührt, diese bereits entzogen hatte.

Anmerkung:
Antwort des EuGH auf das Vorabentscheidungsersuchen - Urteil vom 28.10.2020 - C-112/19

und

Folgeentscheidung des VG Aachen (Beschluss vom 21.05.2021 - 3 K 4955/17)

Siehe auch
Umtausch / Umschreibung / Verlängerung einer EU-Fahrerlaubnis in eine Fahrerlaubnis anderer EU-Mitgliedsstaaten
und
Stichwörter zum Thema EU-Führerschein


Tenor:


Das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Aachen wird ausgesetzt.

Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgenden Auslegungsfragen eingeholt:

  1.  Ist Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126/EG so auszulegen, dass ein Führerscheindokument, und zwar einschließlich der darin dokumentierten Fahrberechtigungen, von den Mitgliedstaaten auch dann strikt anzuerkennen ist, wenn die Ausstellung dieses Dokuments auf einem Umtausch eines Führerscheindokuments nach Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126/EG beruht?

  2.  Falls Frage 1 zu bejahen ist: Darf ein Mitgliedstaat die Anerkennung des umgetauschten Führerscheindokuments gemäß Art. 11 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126/EG ablehnen, wenn der Umtausch durch den Ausstellerstaat zu einem Zeitpunkt erfolgt ist, in welchem der Mitgliedstaat, von dem die materielle Fahrberechtigung herrührt, diese bereits entzogen hatte?

  3.  Falls Frage 2 zu verneinen ist und eine Anerkennungspflicht besteht: Darf ein Mitgliedstaat die Anerkennung des umgetauschten Führerscheindokuments jedenfalls dann ablehnen, wenn der Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsbereich sich die Frage der Anerkennung des Führerscheindokuments stellt, aufgrund "unbestreitbarer Informationen" feststellen kann, dass die materielle Fahrberechtigung zum Zeitpunkt des Umtauschs des Führerscheindokuments nicht mehr bestand?




Gründe:


I.

Der Kläger ist deutscher Staatsbürger und wohnt im deutsch-​niederländischen Grenzgebiet auf der niederländischen Seite. Er begehrt die Aufhebung eines Bescheides, in welchem der Beklagte ihm das Recht abspricht, aufgrund seines niederländischen Führerscheindokuments in Deutschland Kraftfahrzeuge zu führen.

Der am 28. November 1990 geborene Kläger erwarb am 3. Juli 2008 in Deutschland die Fahrerlaubnis der Klassen AM und B sowie am 1. Juli 2015 die Fahrerlaubnis der Klasse T. Dazu stellten ihm die deutschen Behörden einen Führerschein mit der Nummer J 2408774372 aus.

Am 9. Juni 2016 geriet er als Fahrer eines Kraftfahrzeugs in eine polizeiliche Kontrolle. Ein Drogenvortest verlief positiv auf Cannabis. Eine chemisch-​toxikologische Untersuchung der Blutprobe führte im Blutserum zu einem Nachweis des Cannabis-​Wirkstoffs THC sowie zum Nachweis von Spuren von Amphetamin.

Mit Schreiben vom 20. September 2016 teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass beabsichtigt sei, ihm wegen der vorgenannten Fahrt unter Drogeneinfluss die Fahrerlaubnis zu entziehen.

Am 29. September 2016 meldete der Kläger seinen deutschen Wohnsitz ab und verzog in die Niederlande, wo er sich am 13. Oktober 2016 in einem niederländischen Grenzort mit seinem Wohnsitz anmeldete.

Am 1. November 2016 wandte sich der Kläger an die niederländischen Behörden und beantragte, seinen deutschen Führerschein (Nr. J 2408774372) in einen niederländischen Führerschein umzutauschen.

Mit sofort vollziehbarer Ordnungsverfügung vom 9. November 2016 entzog der Beklagte dem Kläger die am 3. Juli 2008 (Klassen AM und B) bzw. 1. Juli 2015 (Klasse T) erteilte Fahrerlaubnis und forderte ihn unter Zwangsgeldandrohung auf, den unter der Nummer J 2408774372 ausgestellten Führerschein unverzüglich abzugeben. Zur Begründung verwies er darauf, dass der Kläger nicht geeignet sei, Kraftfahrzeuge zu führen. Bei ihm bestehe eine Drogenproblematik. Auch in Zukunft sei damit zu rechnen, dass er, wie es am 9. Juni 2016 der Fall gewesen sei, ein Kraftfahrzeug unter Drogeneinfluss führen werde.

Am 12. November 2016 wurde der Bescheid vom 9. November 2016 dem Kläger über seinen damaligen deutschen Rechtsanwalt ordnungsgemäß zugestellt.

Am 14. November 2016 prüfte die in den Niederlanden für den Führerscheinumtausch zuständige Behörde "Rijksdienst voor het Wegverkeer" (künftig: RDW), ob dem Kläger, der seinen deutschen Führerschein vorgelegt hatte, die darin dokumentierte Fahrerlaubnis der Klassen AM, B und T noch zustehe. Dazu führte der RDW eine Computerabfrage in der europäischen Führerschein-​Datenbank "Réseau permis de conduire" (künftig: RESPER) durch.

An diesem Tag zeigte die europäische Datenbank RESPER der niederländischen Behörde RDW an, dass die dem Kläger am 3. Juli 2008 bzw. 1. Juli 2015 in Deutschland erteilte Fahrerlaubnis gültig (Niederländisch: "geldig") sei.

Am 17. November 2016 stellte die RDW dem Kläger einen niederländischen Führerschein (Nr. 5871795197) aus. In Spalte 10 des Dokuments (Erteilungsdatum) heißt es "3. Juli 2008" bzw. "1. Juli 2015". In Spalte 12 des Dokuments (Zusatzabgaben) ist "AM 70.D.J 2408774372" und "B 70.D. J 2408774372" eingetragen.

Der Beklagte erhielt mit einem am 5. Dezember 2016 eingegangenen Schreiben der RDW davon Kenntnis, dass der Kläger seinen deutschen Führerschein in einen niederländischen Führerschein umgetauscht hatte. Das deutsche Führerscheindokument lag dem Schreiben bei.

Der Beklagte fragte beim niederländischen RDW nach, ob mit Blick auf die deutsche Fahrerlaubnisentziehung mit Bescheid vom 9. November 2016 am niederländischen Führerschein vom 17. November 2016 festgehalten werde.

Mit Mail vom 4. Januar 2017 teilte der RDW mit, dass er an der vorgenommenen Umschreibung festhalte, da die Datenbank RESPER ihm bei einer Abfrage am 14. November 2016 die Gültigkeit der deutschen Fahrerlaubnis angezeigt habe.

Am 17. Januar 2017 befuhr der Kläger mit seinem Pkw eine im deutsch-​niederländischen Grenzgebiet auf deutscher Seite gelegene Straße im Gebiet des Beklagten und geriet dabei in eine Polizeikontrolle. Die Polizeibeamten hielten ihm vor, dass er keine gültige Fahrerlaubnis für Deutschland besitze.

Mit dem hier streitbefangenen Bescheid vom 5. September 2017 stellte der Beklagte fest, dass der dem Kläger am 17. November 2016 in den Niederlanden ausgestellte Führerschein (Nr. 5871795197, Klassen: AM, B und T) nicht dazu berechtige, in Deutschland fahrerlaubnispflichtige Fahrzeuge zu führen.




Zur Begründung führte der Beklagte u.a. aus: Mit bestandskräftiger Ordnungsverfügung sei dem Kläger wegen der Drogenfahrt vom 9. Juni 2016 die Fahrerlaubnis wirksam entzogen worden. Allerdings habe der Kläger sein Führerscheindokument entgegen der Vorlagepflicht nicht abgegeben, sondern nach Wegzug aus dem Bundesgebiet in einen niederländischen Führerschein umgetauscht. Dieser EU-​Führerschein sei ohne jede Eignungsüberprüfung der niederländischen Behörden im Umtauschverfahren erteilt worden. Das Dokument könne daher nach Maßgabe des § 28 der deutschen Fahrerlaubnis-​Verordnung keine Fahrberechtigung im Bundesgebiet vermitteln.

Der Kläger hat am 15. September 2017 dagegen Klage erhoben. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, dass der Feststellungsbescheid gegen den im Unionsrecht verankerten Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von EU-​Führerscheinen verstoße, wie sich aus dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 26. April 2012 in der Rechtssache Hofmann (C-​419/10) ergebe.

Mit Beschluss vom 26. Februar 2018 - 3 L 1545/17 -, der im Internet unter www.nrwe.de veröffentlicht ist, hat die Kammer den Antrag des Klägers auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abgelehnt: Nach Maßgabe der deutschen Rechtsprechung und Rechtslehre sei vorliegend die Anerkennung des niederländischen Führerscheindokuments abzulehnen. Auch wenn man die Rechtslage angesichts des Unionsrechts als offen ansehe, sei bei der im Eilverfahren gebotenen Abwägung der Interessen der Sicherheit des Straßenverkehrs Vorrang gegenüber den Mobilitätsinteressen des Klägers einzuräumen. Die Beschwerde des Klägers gegen diesen Beschluss hat das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-​Westfalen mit Beschluss vom 14. Juni 2018 - 16 B 360/18 - zurückgewiesen.


II.

Der Rechtsstreit im Klageverfahren ist auszusetzen. Es ist eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: Europäischer Gerichtshof) zu den im Beschlusstenor formulierten Fragen einzuholen, vgl. Art. 267 AEUV.

Zum rechtlichen Rahmen des Unionsrechts:

Artikel 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126/EG:

   "Die von den Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine werden gegenseitig anerkannt."

Artikel 11 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126/EG:

   "Hat der Inhaber eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten gültigen Führerscheins seinen ordentlichen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat begründet, so kann er einen Antrag auf Umtausch seines Führerscheins gegen einen gleichwertigen Führerschein stellen. Es ist Sache des umtauschenden Mitgliedstaats, zu prüfen, für welche Fahrzeugklasse der vorgelegte Führerschein tatsächlich noch gültig ist."

Artikel 11 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126/EG:

   "Ein Mitgliedstaat lehnt die Anerkennung der Gültigkeit eines Führerscheins ab, der von einem anderen Mitgliedstaat einer Person ausgestellt wurde, deren Führerschein im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats eingeschränkt, ausgesetzt oder entzogen worden ist."

Zum rechtlichen Rahmen des deutschen Rechts:

§ 29 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-​Verordnung) bestimmt:

   "Inhaber einer ausländischen Fahrerlaubnis dürfen im Umfang ihrer Berechtigung im Inland Kraftfahrzeuge führen, wenn sie hier keinen ordentlichen Wohnsitz nach § 7 haben."

§ 29 Abs. 3 der Fahrerlaubnis-​Verordnung bestimmt:

   "Die Berechtigung nach Absatz 1 gilt nicht für Inhaber ausländischer Fahrerlaubnisse,

( ... )

3. denen die Fahrerlaubnis im Inland vorläufig oder rechtskräftig von einem Gericht oder sofort vollziehbar oder bestandskräftig von einer Verwaltungsbehörde entzogen worden ist,

( ... )

In den Fällen des Satzes 1 kann die Behörde einen feststellenden Verwaltungsakt über die fehlende Berechtigung erlassen."





III.

Die Vorlagefragen sind entscheidungserheblich.

Die gerichtliche Entscheidung über die Klage hängt davon ab, ob der angegriffene Bescheid vom 5. September 2017 mit Unionsrecht vereinbar ist.

Im Bescheid wird dem Kläger das Recht abgesprochen, aufgrund eines in den Niederlanden durch Umtausch erworbenen Führerscheindokuments auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland fahrerlaubnispflichtige Fahrzeuge zu führen. Das angerufene Verwaltungsgericht beabsichtigt, den angegriffenen Bescheid als rechtmäßig anzusehen. Es hält eine Ausnahme von der unionsrechtlichen Anerkennungspflicht für geboten, weil dem Kläger zum Zeitpunkt des Umtauschs seines deutschen Führerscheindokuments in den Niederlanden bereits die deutsche materielle Fahrberechtigung entzogen war. Daher dürfte es nicht gerechtfertigt sein, das in den Niederlanden umgetauschte Dokument im Ergebnis besser zustellen als das zugrundeliegende deutsche Originaldokument, das dem Kläger zum Zeitpunkt des Umtauschs keine materielle Fahrberechtigung mehr vermittelt hat. An dieser Entscheidung sieht sich das Gericht aber gehindert. So erscheinen die unionsrechtlichen Voraussetzungen, unter denen ein im Ausstellerstaat durch Umtausch erworbenes Führerscheindokument in einem anderen Mitgliedstaat ausnahmsweise als ungültig angesehen werden darf, als auslegungs- bzw. klärungsbedürftig.

Zur ersten Auslegungsfrage:

Das Gericht geht davon aus, dass die erste Frage zu bejahen ist mit der Folge, dass die nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs gegebene Anerkennungspflicht "ohne jede Formalität" (vgl. dazu etwa: Urteil Hofmann, C-​419/10, ECLI:EU:C:2012:240, Rn. 43) ohne Weiteres auch für umgetauschte Führerscheindokumente und die darin dokumentierte materielle Fahrberechtigung gilt.

Zur zweiten Auslegungsfrage:

Das Gericht tendiert dazu, die zweite Auslegungsfrage ebenfalls zu bejahen. Dafür spricht der (deutsche) Wortlaut der Regelung in Art. 11 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126/EG. Danach kann die Anerkennung eines Führerscheindokuments in einem Mitgliedstaat ohne Weiteres abgelehnt werden, wenn dieser Mitgliedstaat dem Betroffenen zuvor die materielle Fahrberechtigung entzogen hat.

Umgekehrt ist es für die Kammer unter dem Aspekt der Sicherheit des Straßenverkehrs und des damit verfolgten Schutzes von Leib und Leben der Verkehrsteilnehmer nur schwer vorstellbar, dass durch bloßen Umtausch eines Führerscheindokuments eine zuvor aufgrund von Eignungsmängeln entzogene Fahrberechtigung ohne jede Eignungsprüfung der betreffenden Person neu entstehen soll.

Dies gilt auch deshalb, weil nach den unionsrechtlichen Vorgaben gemäß Anhang I Nr. 3 der Richtlinie 2006/126/EG zwischen dem Führerscheindokument als einem bloßen Beweisdokument (nach deutscher Terminologie: "Führerschein") und der materiellen Fahrberechtigung (nach deutscher Terminologie: "Fahrerlaubnis") zu unterscheiden ist. Diese Unterscheidung spiegelt sich in den Eintragungen wider, welche im umgetauschten Führerscheindokument vorhanden sein müssen. Dementsprechend hat die niederländische RDW am 17. November 2016 in Spalte 12 ihres Führerscheindokuments folgende Einträge vorgenommen:

   "AM 70.D.J 2408774372" und "B 70.D.J 2408774372".

Die von der RDW dabei gebrauchte Codezahl "70", die der Bezeichnung der Führerscheinklasse (AM bzw. B) folgt, dokumentiert nach Anhang I Nr. 3 der Richtlinie 2006/126/EG, dass die Erteilung des Dokuments auf einem Umtausch beruht, wobei die Buchstaben- und Zahlenkombination "D.J 2408774372" den eingetauschten deutschen ("D") EU-​Führerschein bezeichnet. Hinzu kommen die Einträge in Spalte 10 des niederländischen Führerscheindokuments, welche die Daten der in Deutschland erworbenen Fahrberechtigungen ausweisen: "3. Juli 2008" hinsichtlich der Klassen AM und B sowie "1. Juli 2015" hinsichtlich der Fahrerlaubnis der Klasse T.


Gleichwohl stellt sich die angerufene Kammer die Frage, ob und in welchem Umfang der weite Wortlaut der Regelung in Artikel 11 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126/EG einschränkend auszulegen ist, und zwar im Lichte der besonderen Bedeutung des in Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126/EG verankerten Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Führerscheindokumenten, welcher der Verwirklichung der nach Art. 21 AEUV allen Unionsbürgern garantierten Freizügigkeit im Unionsgebiet dient.

So hat der Europäische Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung zum so genannten "Führerscheintourismus" unmissverständlich klargestellt, dass es einem Mitgliedstaat, der dem Betroffenen die Fahrberechtigung in der Vergangenheit wegen Eignungsmängeln entzogen oder nicht erteilt hat, keineswegs gestattet ist, deswegen die Anerkennung eines Führerscheindokuments abzulehnen, das dem Betroffenen danach in einem anderen Mitgliedstaat auf der Grundlage einer dortigen Eignungsprüfung ausgestellt worden ist, vgl. dazu Urteile Hofmann, C-​419/10, ECLI:EU:C:2012:240, Rn. 70 und Akyüz C-​467/10, ECLI:EU:C:2012:112, Rn. 47 sowie in diesem Sinne bereits Urteil Kapper, C-​476/01, ECLI:EU:C:2004:261, Rn. 77 und Beschlüsse Halbritter C-​227/05 ECLI:EU:C:2006:245 Rn. 28 und Kremer, C-​340/05, ECLI:EU:C:2006:620, Rn. 30.

Allerdings greift die im Urteil Hofmann, C-​419/10, ECLI:EU:C:2012:240, Rn. 76 ff. maßgebliche Erwägung beim hier zu betrachtenden Dokumentenumtausch gerade nicht. So hat der Europäische Gerichtshof im genannten Urteil auch darauf abgestellt, dass eine weniger anerkennungsfreundliche Rechtsauslegung der Richtlinie 2006/126/EG dazu führte, dass der von der Nichtanerkennung seines Führerscheindokuments Betroffene keine Fahrberechtigung im neuen Wohnmitgliedstaat erwerben könnte, was wiederum auf eine ungerechtfertigte Beschränkung des durch Art. 21 AEUV garantierten Rechts hinauslaufe, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.

Indessen ist der Eintritt dieser unionsrechtswidrigen Situation gerade nicht zu befürchten, wenn die Anerkennung eines umgetauschten Führerscheindokuments abgelehnt wird. So bleibt es dem davon Betroffenen unbenommen, sich in seinem Wohnmitgliedstaat einer Eignungsprüfung zu unterziehen und sich danach ein Führerscheindokument ausstellen zu lassen, das in allen Mitgliedstaaten (also auch in demjenigen, der ihm zuvor die Fahrberechtigung entzogen hat) ohne weitere Formalitäten anzuerkennen ist.

Weitere Unsicherheiten bei der Bestimmung der Reichweite des Anerkennungsgrundsatzes und seiner Ausnahme entstehen aber dadurch, dass nach dem Fallrecht des Europäischen Gerichtshofs der jeweilige Aufenthaltsstaat nicht befugt ist, eine Nachprüfung vorzunehmen, ob ein anderer Mitgliedstaat die einschlägigen Ausstellungsvoraussetzungen für Führerscheindokumente beachtet hat. Der Besitz eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins ist nämlich als Beweis dafür anzusehen, dass sein Inhaber am Tag seiner Ausstellung die einschlägigen Voraussetzungen erfüllte, vgl. dazu etwa die Urteile Grasser C-​184/10, ECLI:EU:C:2011:324, Rn. 21 und Schwarz C-​321/07 ECLI:EU:C:2009:104, Rn. 77.

Die Kammer bezweifelt, ob dieser Grundsatz beim Dokumentenumtausch uneingeschränkt anwendbar ist. So bezieht sich die vom umtauschenden Mitgliedstaat nach Artikel 11 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2006/126/EG vorzunehmende Prüfung darauf, für welche Fahrzeugklasse das zum Umtausch vorgelegte Dokument noch gültig ist. Damit hat der Ausstellerstaat die Gültigkeit von Verwaltungsakten zu beurteilen, die nicht er, sondern ein anderer Mitgliedstaat erlassen hat. Diese Besonderheit lässt es zweifelhaft erscheinen, ob der Besitz eines umgetauschten Führerscheindokuments tatsächlich als Beweis für die Erfüllung aller Umtauschvoraussetzungen gelten kann.

Im Übrigen dürfte es für die Frage der Anerkennung des umgetauschten Führerscheindokuments nicht etwa darauf ankommen, ob die Ausstellung des Dokuments, wie im vorliegenden Fall, auf der Grundlage eines unrichtigen Gültigkeitsvermerks im EU-​Register RESPER erfolgte.

Zur dritten Auslegungsfrage:

Sollte Art. 11 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126/EG nicht anwendbar sein, stellt sich für die Kammer die Frage, ob sich die Ablehnung der Anerkennung aus dem Fallrecht des Europäischen Gerichtshofs ergibt. Danach ist maßgeblich, ob aufgrund "unbestreitbarer Informationen" feststeht, dass ein Mitgliedstaat bei der Ausstellung des Führerscheindokuments gegen solche Voraussetzungen verstoßen hat, die für das unionsrechtliche Anerkennungssystem von grundlegender Bedeutung sind. Das ist etwa beim "Wohnsitzerfordernis" anerkannt, vgl. Urteile Hofmann, C-​419/10, ECLI:EU:C:2012:240, Rn. 43 f. und Grasser C-​184/10, ECLI:EU:C:2011:324, Rn. 33 sowie Urteil Wiedemann u.a. C-​329/06 u.a., ECLI:EU:C:2008:366 Rn. 72.



Vor diesem Hintergrund erscheint der Kammer eine Ausnahme von der Anerkennungspflicht bei umgetauschten Führerscheindokumenten möglich, wenn ein Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsbereich die Frage der Anerkennung zu beantworten ist, aufgrund "unbestreitbarer Informationen" feststellen kann, dass die materielle Fahrberechtigung zum Zeitpunkt des Umtauschs des Führerscheindokuments nicht mehr bestand.

Im Sinne einer wirksamen Bekämpfung des "Führerscheintourismus" wären damit solche Fälle von der unionsrechtlichen Anerkennungspflicht ausgenommen, in denen ein Mitgliedstaat (beispielsweise bei einer Verkehrskontrolle) aus den Spalten 10 und 12 des ihm vorgelegten EU-​Führerscheindokuments eine materielle Fahrberechtigung entnehmen kann, die dieser Mitgliedstaat, wie im vorliegenden Fall geschehen, in der Vergangenheit selbst erteilt, aber schon vor dem Umtausch der Führerscheindokumente zweifelsfrei wirksam entzogen hat.

Der Beschluss ist kraft Unionsrechts unanfechtbar.

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