Führt die Gestaltung einer Haltestelle dazu, dass erkennbar gehbehinderte Personen in eine Straßenbahn einsteigen, ohne dass der Fahrer dies bemerken muss oder sogar kann, kann der Verkehrsbetrieb bei einem Sturz ein Mitverschulden des gehbehinderten Fahrgasts nicht daraus herleiten, dass dieser versucht, sofort nach dem Einsteigen einen nahe gelegenen freien Sitzplatz zu erreichen. Auch ohne Verschulden haftet der Straßenbahnhalter voll aus der Gefährdungshaftung.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung hat teilweise Erfolg, soweit die Klägerin mit ihr die Verurteilung der Beklagten zu 2. verfolgt.
I. Das Amtsgericht hat die Klage gegen den Beklagten zu 1. zu Recht abgewiesen. Gegen ihn hat die Klägerin keinen Schadensersatzanspruch gemäß §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB, da sie ihm eine schuldhafte Verletzungshandlung nicht nachweisen konnte.
1. Die Feststellung des Amtsgerichts, der Beklagte zu 1. habe die Klägerin tatsächlich nicht bemerkt, ist gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auch der Berufungsentscheidung zugrunde zu legen, weil keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Beweiswürdigung unrichtig oder unvollständig erfolgt sein könnte. Entscheidend ist dabei, dass auch auf Grundlage der durchweg glaubhaften Bekundungen des Zeugen nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Beklagte zu 1. die Klägerin vor dem Einsteigen bemerkt hätte. Der Zeuge will nur wegen des versuchten Blickkontakts mit dem Beklagten zu 1. davon ausgegangen sein, dass dieser die Klägerin bemerkt hatte. Er räumte aber unumwunden ein, weder eine erkennbare Reaktion des Beklagten zu 1. erhalten zu haben, noch selbst weitergehende Maßnahmen ergriffen zu haben, um auf sich aufmerksam zu machen. Dafür, dass der Beklagte zu 1. die Klägerin nicht bemerkte, spricht auch, dass der Beklagte zu 1. die Kinderwagentaste nicht betätigte und so die Türen, wie vom Zeugen bestätigt, weiter automatisch schlossen.
2. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass der Beklagte zu 1. die Klägerin fahrlässig nicht bemerkt hätte. Allein, dass sich die Klägerin unstreitig von vorne der Straßenbahn näherte, reicht hierfür angesichts des vom Zeugen bestätigten Passagieraufkommens beim Einsteigen nicht aus. Vor allem konnte der Beklagte zu 1. wegen der unstreitigen örtlichen Gegebenheiten die Klägerin nicht über seine Außenspiegel beim Einsteigen beobachten: Die Straßenbahn befand sich nach der unwidersprochenen Schilderung des Beklagten zu 1. an der Haltestelle in einer Rechtskurve, so dass der Fahrer letztlich nur die vorderste Tür der Straßenbahn einsehen konnte.
II. Demgegenüber schuldet die Beklagte zu 2. als Bahnbetriebsunternehmerin der Klägerin gemäß §§ 1 Abs. 1, 6 Satz 2 HaftpflG die Zahlung eines angemessenes Schmerzensgeldes, weil die Klägerin beim Betrieb einer Schienenbahn der Beklagten zu 2. verletzt wurde.
1. Nicht verständlich ist dabei für die Kammer, inwieweit die Beklagte zu 2. als aktives Verkehrsunternehmen bei der Erörterung der Rechtslage durch den Hinweis auf ihre Gefährdungshaftung überrascht worden sein könnte. Zum einen darf von einem städtischen Verkehrsbetrieb verlangt werden, dass er mit den zivilrechtlichen Grundlagen einer möglichen Ersatzpflicht gegenüber seinen Kunden und anderen Verkehrsteilnehmern vertraut ist. Zum anderen war sich die Beklagte zu 2. ausweislich ihres Schriftsatzes vom 22.08.2008 zumindest in der ersten Instanz auch durchaus darüber im Klaren, dass sie bei einem fehlenden zurechenbaren Verschulden ihres Fahrers aus Gefährdung haften kann.
2. Die Haftung der Beklagten zu 2. ist nicht ausgeschlossen. Es lag kein Fall höherer Gewalt vor (§ 1 Abs. 2 HaftpflG). Gegenüber ihren Fahrgästen könnte sich die Beklagte selbst dann nicht auf ein unabwendbares Ereignis berufen, wenn es vorläge (§ 13 Abs. 3 HaftpflG). Vorliegend ist für das Maß der Haftung der Beklagten zu 2. aber auch zu berücksichtigen, dass die normale Betriebsgefahr ihrer Straßenbahn an der Haltestelle Friedhof Broich erheblich gesteigert ist. Die Lage der Haltstelle in einer Rechtskurve verhindert, dass der Fahrer über den Außenspiegel sehen kann, welche Fahrgäste an der ersten für gehbehinderte Personen und Fahrgäste mit Kinderwagen geeigneten Tür in die Straßenbahn einsteigen wollen. Nur so ist schließlich zu erklären, dass dem Beklagten zu 1. nicht aufgefallen ist, dass die Klägerin die Straßenbahn betreten wollte (oben I. 2.).
3. Der Anspruch besteht in vollem Umfang. Ein anspruchsminderndes oder gar -ausschließendes Mitverschulden der Klägerin hat die Beklagte zu 2. nicht dargelegt.
a) In erster Instanz hat sie sich darauf berufen, dass sich die Klägerin nicht beim Fahrer gemeldet habe, obwohl sie gehbehindert sei. Woraus sich eine solche Meldepflicht ergeben sollte, ist unerfindlich. Gehbehinderte Personen, zu deren Beförderung die Beklagte zu 2. verpflichtet ist, werden in aller Regel schon keine Zeit haben, sich vor dem Einstieg an einer für sie geeigneten Tür beim Fahrer zu melden, also zunächst zum Fahrer und dann zurück zu ihrer Tür zu laufen. Im Massenverkehr würde dies zu Verzögerungen führen, die einzugehen die Beklagte zu 2. auch im Interesse ihrer anderen Fahrgäste nicht bereit sein kann. Außerdem dürfen Personen, die nur bestimmte Türen der Straßenbahn überhaupt benutzen können, darauf vertrauen, dass ihr Einsteigen gerade an diesen Türen bemerkt wird, ohne dass sie selbst zusätzliche Maßnahmen ergreifen müssten.
b) Nunmehr beruft sich die Beklagte zu 2. auch darauf, dass die Klägerin sich nicht in ausreichender Weise festgehalten habe. Dabei muss nicht entschieden werden, ob dieser neue Vortrag gemessen an § 531 Abs. 2 ZPO in der zweiten Instanz Berücksichtigung finden kann. Die Beklagte zu 2. trägt nämlich nicht vor, welches Fehlverhalten genau der Klägerin zur Last gelegt werden könnte. Unstreitig ist, dass die Klägerin mit einem Rollator die Straßenbahn betreten hat, den sie nun einmal mit beiden Händen festhalten musste, um einen sicheren Stand zu haben. Ebenso unstreitig ist, dass die Klägerin sofort nach dem Einstieg einen der freien Sitzplätze einnehmen wollte, was in Anbetracht ihrer Gehbehinderung erkennbar geboten war. Dass die Zeit zwischen dem Einsteigen und dem Anfahren der Straßenbahn nicht ausreichte, um den Sitzplatz einzunehmen, kann nicht zu Lasten der Klägerin gehen. Insbesondere kann die Beklagte zu 2. nicht erwarten, dass eine gehbehinderte Person sofort nach dem Einsteigen mit einer Hand den Rollator loslässt und sich mit dieser Hand an der nächstgelegenen Stange festhält. Abgesehen davon, dass ein solches Festhalten kaum einen sicheren Stand ermöglicht, müsste man dann auch von gehbehinderten Personen verlangen können, bis zum Stillstand an ihrer Zielhaltestelle in dieser Haltung zu verharren. Dem steht aber entgegen, dass unzweifelhaft eine gehbehinderte oder gebrechliche Person vor einem Sturz am besten dadurch geschützt ist, dass sie sich setzt. Dem tragen die Verkehrsbetriebe gemeinhin auch dadurch Rechnung, dass nach ihren Beförderungsbedingungen Sitzplätze für Schwerbehinderte, Gehbehinderte, ältere oder gebrechliche Personen, werdende Mütter und für Fahrgäste mit kleinen Kindern freizugeben sind (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 2 der Beförderungsbedingungen aller im VRR zusammengeschlosser Verkehrsbetriebe).
c) Die von der Beklagten angeführte Rechtsprechung betrifft keine vergleichbaren Sachverhalte: In dem vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main entschiedenen Fall ( NZV 2002, 367) hatte sich der Fahrgast im Mittelgang eines Busses an einen Sitz gelehnt, sich aber nicht festgehalten. Das Landgericht Kassel ( VersR 1995, 111) hatte einen Fall zu entscheiden, in dem sich eine 80-jährige weder festgehalten, noch versucht hatte, sofort einen Sitz einzunehmen. Der Bundesgerichtshof wiederum hat betont, dass den Fahrer nur dann besondere Sorgfaltspflichten treffen, wenn sich durch eine erkennbare schwere Behinderung des Fahrgastes die Überlegung aufdrängt, dass dieser beim Anfahren stürzen könnte ( NJW 1993, 654), was er im dortigen Fall verneinte, in dem eine 65-jährige Frau trug, anstatt sich festzuhalten.
Vorliegend war die Klägerin erkennbar gehbehindert, was dem Fahrer allerdings wegen der Ausgestaltung der Haltestelle nicht auffallen konnte. Außerdem hat sie sofort versucht, einen Sitzplatz zu erreichen. Gerade auf Grundlage der Rechtsausführungen des Bundesgerichtshofs kommt man danach zu einer uneingeschränkten Haftung der Beklagten zu 2.: Führt die Gestaltung einer Haltestelle dazu, dass erkennbar gehbehinderte Personen in eine Straßenbahn einsteigen, ohne dass der Fahrer dies bemerken muss oder sogar kann, kann der Verkehrsbetrieb bei einem Sturz ein Mitverschulden des gehbehinderten Fahrgasts nicht daraus herleiten, dass dieser versucht, sofort nach dem Einsteigen einen nahe gelegenen freien Sitzplatz zu erreichen.
Offen bleiben kann, ob wegen der Gestaltung ihrer Haltestelle der Beklagten zu 2. nicht sogar ein über die bloße Steigerung ihrer Betriebsgefahr hinausgehender Verschuldensvorwurf zu machen ist.
4. Die anhand der ärztlichen Bescheinigung vom 27.5.2008 dokumentierten und von der Beklagten nicht bestrittenen Verletzungsfolgen des Sturzes am 20.7.2008 rechtfertigen ein Schmerzensgeld in Höhe von 1 500 EUR, § 287 ZPO. Die Klägerin erlitt Prellungen von Schulter, Schädel und Thorax, die dem unstreitigen Sturz auch ohne Weiteres zugeordnet werden können. Eine Woche nach dem Sturz hatte die Klägerin noch Schmerzen zumindest in der Schulter. Über den weiteren Behandlungsverlauf und die Intensität der Schmerzen ist indes nichts mitgeteilt. Die Kammer kann demnach auch nur die gerichtsbekannt schmerzhaften Prellungen und eine über eine Woche hinausgehende Beeinträchtigung der Schulter zugrunde legen. Dabei erscheint angemessen, aber auch ausreichend, die mit jeder Prellung verbunden Schmerzen mit 500 EUR abzugelten, zumal weder das vorprozessuale Verhalten noch die Rechtsverteidigung der Beklagten zu 2. eine höhere Genugtuung erfordern.
Die Nebenentscheidungen beruhen unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Verlustanteile der Beklagten auf §§ 92 Abs. 1 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.