Wegen der schlechten Sichtbarkeit von Fußgängern, die - verdeckt durch das haltende Verkehrsmittel - sich anschicken, die Fahrbahn zu überqueren, hat der Gesetzgeber den übrigen Verkehrsteilnehmern besondere Verhaltensmaßregeln beim Passieren von Haltestellenbereichen auferlegt.
Bei den entsprechenden Vorschriften, insbesondere § 20 StVO, handelt es sich um Schutzgesetze, die - vor allem wegen ihrer schlechten Sichtbarkeit - gegenüber unachtsamem Verhalten von Fußgängern, insbesondere von Kindern, greifen.
OVG Lüneburg v. 12.09.2002:
Rechtsgrundlage für die Einrichtung der umstrittenen Haltestelle (Anbringung des Verkehrszeichens Nummer 224 zu § 41 Abs. 2 StVO) ist § 45 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 StVO. Hiernach haben die Straßenverkehrsbehörden nach pflichtgemäßem Ermessen über die Anbringung des Verkehrszeichens zu entscheiden und dabei die relevanten Belange abzuwägen. In diesem Rahmen ist die Rechtsposition eines Anliegers - auch bei Berufung auf grundgesetzlich geschützte Rechtspositionen - in der Weise begrenzt, dass er gegenüber der Straßenverkehrsbehörde lediglich einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung im Rahmen des § 45 StVO geltend machen kann.
AG Hamburg v. 10.10.2006:
Bei einem Zusammenstoß zwischen einem anfahrenden Linienbus und einem Fahrzeug, das im gleichgerichteten Verkehr das Vorfahrtsrecht des § 20 Abs. 5 StVO missachtet, erachtet das Gericht eine Haftungsverteilung von 2/3 (Kfz) zu 1/3 (Linienbus) für sachgerecht.
VG Koblenz v. 17.11.2008:
Ein Haltestellenschild nach § 41 Abs. 2 Nr. StVO Nr. 4 (Verkehrszeichen Nr. 224) ist ein Verwaltungsakt in Form einer Allgemeinverfügung. Der Regelungscharakter ergibt sich nicht nur daraus, dass § 41 StVO ohnehin nur Vorschriftzeichen enthält, sondern insbesondere auch aus Folgendem: Der Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen ist eine zwischen bestimmten Ausgangs- und Endpunkten eingerichtete regelmäßige Verkehrsverbindung, auf der Fahrgäste nur an den jeweiligen Haltestellen ein- und aussteigen können (§ 42 PBefG). Die Fahrer der Linienbusse müssen die Haltestellen anfahren und genießen dabei die Vorrechte des § 20 Abs. 1, 3, 4 und 5 StVO. Die Fahrgäste müssen auf den Gehwegen warten (§ 20 Abs. 6 StVO). Das Ein- und Aussteigen an den Haltestellen wird durch § 20 Abs. 2 StVO zusätzlich geschützt. Außerdem besteht bis zu je 15 m vor und hinter den Haltestellenschildern ein Parkverbot (§ 12 Abs. 3 Nr. 4 StVO).
VG Göttingen v. 06.07.2010
Rechtsgrundlage für die Einrichtung einer Bushaltestelle in Form des Aufstellens des Verkehrszeichens Nummer 224 der Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO ist § 45 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 StVO. Hiernach entscheidet die Straßenverkehrsbehörde über die Anbringung von Verkehrszeichen unter Abwägung der relevanten Belange nach pflichtgemäßem Ermessen. Daraus folgt, dass ein Betroffener in Bezug auf die Einrichtung der Bushaltestelle lediglich einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung durch die Beklagte hat.
LG Saarbrücken v. 05.04.2012:
Ist unaufklärbar, ob der Fahrer eines Linienbusses beim Abfahren von der Haltestelle den Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt hatte, kann ein Verstoß des vorbeifahrenden Kraftfahrers gegen § 20 Abs. 5 StVO ebenso wenig angenommen werden wie ein Verstoß des Busfahrers gegen § 10 StVO.
OLG Naumburg v. 30.05.2013:
Es spricht viel dafür, dass auf einen Unfall, der in einem Reisebus beim Ein- oder Aussteigen passiert, § 7 StVG anzuwenden ist, denn diese Vorgänge stehen in einem nahen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem eigentlichen Beförderungsvorgang durch den Reisebus, wenn man sie nicht sogar als notwendigen Bestandteil desselben begreifen muss. Das Einsteigen in einen Bus ist eine Verrichtung, die jeder erwachsene und nicht behinderte oder kranke Mensch ohne weiteres allein und ohne Hilfe bewältigen kann und für gewöhnlich auch bewältigt. Deshalb haftet der Fahrgast, der beim Einsteigen in einen den Anforderungen des § 2 BOKraft entsprechenden Bus stürzt, allein.
OLG Hamm v. 23.11.2000:
Die gesteigerte Sorgfaltspflicht gilt nach der gesetzlichen Regelung nur an bezeichneten Haltestellen. Es geht nicht an, die strengen Vorsichtspflichten des § 20 Abs. 1 StVO auf jedes Halten eines Linienomnibusses auf freier Strecke zu erstrecken.
AG Rheda-Wiedenbrück v. 04.01.2001:
Angesichts des eindeutigen Wortlautes des § 20 Absatz 4 StVO kann dessen Regelung nicht auf einen Bedarfsverkehr mit nicht vorher feststehenden Anhalteorten analog angewandt werden. Einem Fahrzeugführer ist deshalb nicht anzulasten, wenn er an einem Omnibus, der bei einer Sonderfahrt nach dem Anhalten "auf freiem Feld" mit eingeschalteter Warnblinkanlage wieder anfährt, nicht mit Schrittgeschwindigkeit sondern mit einer Geschwindigkeit von 50 km/h vorbeifährt.
OLG Köln v. 09.04.2002:
In § 20 Abs. 1 StVO sind die Fahrgäste als Adressaten des Schutzzwecks nicht ausdrücklich genannt. Es erscheint gerechtfertigt, alle Fußgänger im Umfeld eines an einer Haltestelle stehenden Linienbusses in den Schutzzweck der Norm einzubeziehen; denn durch den haltendenden Bus wird eine besondere Gefährdungssituation geschaffen, der nicht nur die Fahrgäste selbst, sondern auch andere Fußgänger im Bereich des Busses ausgesetzt sind.
OLG Hamburg v. 11.02.2005:
§ 20 Abs. 1 StVO ist nicht nur auf Linienbusse anwendbar, die auf der Fahrbahn halten, sondern auch auf Busse, die in einer Haltestellenbucht stehen. Ferner liegt der von § 20 StVO geschützte örtliche Bereich nicht nur unmittelbar neben dem haltenden Bus, sondern erstreckt sich auf eine gewisse Entfernung davor und dahinter. Vom Sinn und Zweck der Norm her wird man im Einzelfall den Schutzbereich so weit zu erstrecken haben, wie mit fort- oder zueilenden Fahrgästen gerechnet werden muss. Unter den Schutzbereich des § 20 StVO fallen nicht nur die aussteigenden Fahrgäste, sondern auch diejenigen Personen, die einsteigen und damit erst Fahrgäste werden wollen. Es kommt nicht darauf an, ob jemand tatsächlich den Bus erreichen will, um einzusteigen.
BGH v. 28.03.2006:
§ 20 Abs. 1 StVO ist ein Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB für alle Fußgänger, die im räumlichen Bereich eines an einer Haltestelle haltenden Linienomnibusses, einer Straßenbahn oder eines gekennzeichneten Schulbusses unachtsam die Fahrbahn überqueren.
OLG Bamberg v. 28.01.2013:
Eine Ordnungswidrigkeit liegt in der qualifizierten und für die konkrete Bußgeldbemessung ausschlaggebenden "Gefährdungsvariante" des § 20 Abs. 4 StVO (i. V. m. Nr. 95.2 BKat) nicht vor, wenn es sich bei einem beim Vorbeifahren an einer Haltestelle mit einem wartenden Linienbus verletzen Fußgänger nicht um einen "Fahrgast" des Linienomnibusses handelt. Gerade diese Fahrgasteigenschaft ist überdies zumindest vorrangiger Schutzzweck der Norm, wenn auch die in § 20 StVO genannten erhöhten Sorgfaltspflichten beim Vorbeifahren letztlich dem Schutz aller Fußgänger und nicht nur derjenigen dienen mögen, die im räumlichen Bereich des Verkehrsmittels (unachtsam) die Fahrbahn überqueren.
OLG Koblenz v. 12.08.2013:
In den Schutzbereich des § 20 Abs. 4 StVO fallen alle Fahrgäste, gleich aus welcher Richtung sie über die Straße zum Bus laufen. Damit ist ein Kraftfahrer verpflichtet, bei Annäherung an einen mit eingeschalteter Warnblinkanlage in einer Haltebucht stehenden Schulbus auch die Gegenfahrbahn zu beobachten, um rechtzeitig auf einen querenden Fußgänger reagieren zu können. § 20 Abs. 4 StVO erfordert ein Herabsetzen der Geschwindigkeit auf 4 - 7 km/h bereits beim Vorbeifahren an einem mit Warnblinkleuchten ausgestatteten Bus, nicht erst, wenn ein Fußgänger sichtbar wird. Ein Kfz-Fahrer muss in der Situation, dass ein Bus mit eingeschalteter Warnblinkleuchte an einer Haltebucht steht, mit Personen rechnen, die den Bus noch erreichen wollen und deshalb den direkten Weg über die Straße wählen. Er kann nicht darauf vertrauen, dass die Fahrgäste eine Fußgängerfurt benutzen werden.
LG Saarbrücken v. 11.01.2019:
Auf einen etwaigen Verstoß des Vorfahrtberechtigten gegen §§ 20 Abs. 1, Abs. 5 StVO kann sich der Wartepflichtige nach einem Kreuzungszusammenstoß nicht berufen, da die Vorschrift dem Schutz von Fußgängern dient, nicht aber dem des einmündenden Kraftverkehrs.
OLG Saarbrücken v. 17.07.2007:
Nach § 20 Abs. 1 StVO darf an Omnibussen des Linienverkehrs, die an Haltestellen halten, auch im Gegenverkehr, nur vorsichtig vorbeigefahren werden. Es bedarf dann einer gemäßigten Geschwindigkeit sowie einer erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber Fußgängern. Auch im Rahmen des § 20 Abs. 2 StVO ist anerkannt, dass die Schrittgeschwindigkeit nicht nur beim unmittelbaren Ein- und Aussteigen der Fahrgäste, sondern schon dann einzuhalten ist, wenn die Fahrgäste die Fahrbahn beim Annähern des Busses betreten, um einzusteigen. Die Sorgfaltspflichten des vorbeifahrenden Kraftfahrers verringern sich nicht bereits in dem Moment, in dem der Bus gerade angefahren ist.
OLG Hamm v. 19.03.2001:
Ein Kradfahrer ist nicht verpflichtet, gemäß § 20 Abs. 4 StVO Schrittgeschwindigkeit einzuhalten, wenn an einem haltenden Linienbus weder das Warnblinklicht eingeschaltet noch war der Omnibus als Schulbus gekennzeichnet ist. Wenn es sich um einen normalen Omnibus des Linienverkehrs handelt, der an einer Haltestelle (Zeichen 224) hält, ist der Kfz-Führer lediglich verpflichtet, vorsichtig vorbeizufahren. Zu vorsichtigem Vorbeifahren an einem haltenden Omnibus gehört, dass der vorbeifahrende Fahrzeugführer in besonderem Maße auf Fußgänger achtet, die Verkehrssituation sorgfältig beobachtet und sich auf ein Betreten der Fahrbahn durch Fußgänger einstellt. Der Kraftfahrer muss grundsätzlich mit der Möglichkeit rechnen, dass vor einem in seiner Fahrtrichtung haltenden Bus Fußgänger, welche die Fahrbahn überqueren und sich deshalb einen Überblick über die Verkehrssituation verschaffen wollen, unvorsichtig einige Schritte weit auf die Fahrbahn treten. Dieser Möglichkeit hat der Fahrzeugführer grundsätzlich durch Einhaltung eines Seitenabstandes von 2 m Rechnung zu tragen. Damit, dass Fußgänger die Fahrbahn vor oder hinter einem Bus unachtsam überqueren, muss der Fahrzeugführer indessen bei Fehlen besondere Anhaltspunkte nicht rechnen.
OLG Hamburg v. 11.02.2005:
Betritt ein Fußgänger eiligen Schrittes die Fahrbahn - auch wenn dies zunächst nur in der Haltebucht geschieht - und bewegt sich in Richtung auf den haltenden Bus zu und bietet damit unmittelbar so sehr das typische Bild des unvorsichtigen Fußgängers, der unter Außerachtlassung des Fahrzeugverkehrs seinen Bus noch erreichen will, muss der Kfz-Führer bereits dies als Bremsaufforderung nehmen, um dem Gebot des § 20 Abs. 1 StVO zu genügen und den Zweck der Norm einhalten zu können, nämlich noch rechtzeitig vor unvorsichtig die Straße querenden Fußgängern anhalten zu können.
OLG Celle v. 12.05.2005:
Ein Kraftfahrer, der an einer Straßenbahnhalteinsel vorbeifährt, braucht nicht deshalb schon mit Schrittgeschwindigkeit zu fahren, weil Fußgänger auf die Straße laufen könnten. Er darf vielmehr darauf vertrauen, dass sein Vorrecht beachtet werden wird.
AG Köln v. 09.08.2011:
In § 20 Abs. 1 StVO werden Fahrgäste als Adressaten des Schutzzwecks nicht ausdrücklich genannt sind und damit erscheint die Einbeziehung aller Fußgänger im Umfeld eines an einer Haltestelle stehenden Linienbusses in den Schutzbereich der Norm gerechtfertigt. Dies gilt jedoch nur für solche Fußgänger, die sich derart im räumlichen Bereich des haltenden Busses befinden, dass sie der dadurch geschaffenen besonderen Gefährdungssituation ausgesetzt sind. Nicht in den Schutzbereich fällt hingegen ein Fußgänger, der die Straße von einer auf der gegenüberliegenden Straßenseite gelegenen Haltestelle aus zu überqueren beginnt.
OLG Hamm v. 13.04.2010:
Auch Querungshilfen im Bereich einer Haltestelle gehören zum durch § 20 StVO geschützten Bereich. Tritt eine 17-jährige Fußgängerin hinter einem Linienbus, an dem kein Warnblinklicht eingeschaltet war, über eine Querungshilfe auf die Fahrbahn, ohne sich um herannahende Fahrzeuge zu kümmern, so haftet sie bei einem Unfall zu 2/3 mit.
OLG Köln v. 04.05.2015:
Beim Übergang von der Bahnsteig- bzw. Haltestellenkante ist regelmäßig mit gewissen Lücke von wenigen Zentimetern und/oder mit einem gewissen Höhenversatz zu rechnen. Deshalb ist ein einstiegswilliger Fahrgast verpflichtet, sich durch einen zumindest flüchtigen Blick über die äußere Beschaffenheit des Eintrittsbereichs der Bahn vergewissern. Das Übersehen einer deutlichen Vertiefung durch eine zu frühe Absenkung des Innenbodens der Bahn kann zur Anrechnung eines Mithaftungsanteils des Fahrgastes führen.
KG Berlin v. 24.07.2008:
Der Fahrer eines Linienbusses muss beim Anfahren von der Haltestelle nicht abwarten, bis ein Radfahrer, der sich noch etwa ein bis zwei Fahrzeuglängen hinter dem Heck des Busses befindet, vorbeigefahren ist (§§ 10, 20 Abs. 5 StVO). Der Radfahrer, der den anfahrenden Linienbus überholt und nur knapp vor ihm nach rechts einschert, verstößt gegen § 5 Abs. 4 Satz 4 StVO. Kommt es beim Einscheren zur Kollision der Fahrzeuge, kann im Rahmen der Abwägung die Betriebsgefahr des Busses gegenüber dem (groben) Verschulden des Radfahrers zurücktreten.
KG Berlin v. 15.01.2015:
Kollidiert ein Radfahrer auf einem gekennzeichneten Radweg, der rechts an einer Haltestelle des Linienverkehrs vorbeiführt und für die Fahrgäste einen für sie reservierten Bereich von bis zu 3 m vorsieht, mit einem Fahrgast, der gerade einen haltenden Bus verlassen hat, kommt wegen des Verstoßes gegen § 20 Abs. 2 StVO eine Haftungsverteilung von 80% zu Lasten des Radfahrers in Betracht.