Fahrt der Vorfahrtberechtigte mit einer Geschwindigkeit von 95 km/h statt erlaubter 50 km/h in einen Kreuzungsbereich ein, dann haftet er für den Schaden voll, und zwar auch dann, wenn der Unfall für den Wartepflichtigen nicht unvermeidbar war.
Tatbestand:
Die Parteien streiten um Schadensersatz im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall.
Die Klägerin ist gewerblicher Autovermieter. Am 14.05.2007 befuhr der Mieter eines Audi TT mit dem amtlichen Kennzeichen ... die Boltenhagener Straße in Dresden in Fahrtrichtung Boltenhagener Platz. Es herrschte Tageslicht und es war 9.25 Uhr. Der Beklagte zu 1) befuhr mit seinem BMW die Goethestraße in Richtung Boltenhagener Platz, mit der Absicht, diesen in Richtung Gertrud-Caspari-Straße zu überqueren. Der Beklagte zu 1) war wartepflichtig und hatte die Vorfahrt des klägerischen Fahrzeuges zu beachten. Nach einem kurzen Halt fuhr der Beklagte zu 1) in den Kreuzungsbereich hinein und hielt an. Das klägerische Fahrzeug wurde mit einer Geschwindigkeit von etwa 95 km/h bewegt. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit betrug 50 km/h. Das klägerische Fahrzeug wich nach links dem stehenden Fahrzeug des Beklagten zu 1) aus und fuhr gegen einen auf dem Boltenhagener Platz befindlichen Lichtmast. Zu einem Zusammenstoß der beiden Fahrzeuge kam es nicht.
Die Klägerin beziffert einen Gesamtschaden im Umfange von 22.287,24 EUR (Schriftsatz vom 20.12.2010, Blatt 4 d.A.).
Die Klägerin ist der Ansicht, dass sie von dem ihr entstandenen Schaden 7.429,08 EUR, das ist ein Drittel, von den Beklagten als Gesamtschuldner beanspruchen könne. Der streitgegenständliche Verkehrsunfall sei zwar von dem Mieter des klägerischen Fahrzeuges wegen Fahrens mit überhöhter Geschwindigkeit in erheblicher Weise mitverursacht worden, jedoch sei der Unfall für den Beklagten zu 1) eindeutig vermeidbar gewesen, da er von seiner Anfahrstelle an der Kreuzung Goethestraße nach links freien Blick gehabt hätte. Er hätte den von dort nahenden vorfahrtsberechtigten Mieter schon längere Zeit erkennen können und müssen.
Die Klägerin beantragt:Die Beklagten beantragen:
- Die Beklagten werden samtverbindlich verurteilt, an die Klägerin EUR 7.429,08 nebst 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz an Zinsen hieraus seit Klagezustellung zu bezahlen.
- Die Beklagten werden samtverbindlich verurteilt, die Klägerin von den vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von netto EUR 555,60 freizustellen.
Die Klage wird abgewiesen.Die Beklagten sind der Auffassung, dass ihre Mithaftung nicht in Betracht käme, weil der Fahrer des klägerischen Fahrzeuges die entscheidende Unfallursache durch eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um nahezu 100 % gesetzt habe, indem er statt der erlaubten 50 km/h mindestens 95 km/h gefahren sei. Der Beklagte zu 1) habe an der Kreuzung zuerst am Ende der von ihm befahrenen wartepflichtigen Straße angehalten und habe sich sodann mit langsamer Geschwindigkeit in den Kreuzungsbereich hineingetastet. Nach links, von wo später das klägerische Fahrzeug gekommen sei, wäre ihm die Sicht auf den herannahenden Verkehr durch abgestellte Fahrzeuge erschwert gewesen. Sobald er den von links herannahenden Fahrer des klägerischen Fahrzeuges erkannt habe, habe er sein Fahrzeug sofort zum Stehen gebracht. Hinzu käme, dass der Fahrer des klägerischen Fahrzeuges sich mit einer Geschwindigkeit von mind. 95 km/h genähert habe, obwohl in dem betroffenen Bereich ein Warnschild "Achtung Schulkinder" aufgestellt gewesen wäre.
Das Gericht hat den Beklagten zu 1) zum Unfallhergang angehört und die staatsanwaltliche Ermittlungsakte mit dem Az.: 704 Js 32388/07 beigezogen. Ferner wurde der Sachverständige ... in der mündlichen Verhandlung vom 10.06.2011 angehört. Wegen des Ergebnisses der Anhörung wird auf den Inhalt des Protokolls vom 10.06.2011 verwiesen.
Wegen des weiteren umfangreichen Parteivorbringens wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
I.
Die Klage ist zulässig, in der Sache hat sie keinen Erfolg.
Der Klägerin steht kein Schadensersatzanspruch wegen des streitgegenständlichen Verkehrsunfalles vom 14.05.2007 gegen die Beklagten zu. Nach Anhörung des Sachverständigen ... und Einsichtnahme in die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Dresden 704 Js 32388/07 und das darin enthaltene Gutachten des Sachverständigen ... vom 21.08.2007 steht für das Gericht zur Überzeugung fest, dass der streitgegenständliche Verkehrsunfall seine Ursache und Gepräge in der deutlich überhöhten Geschwindigkeit hat, mit der der Fahrer des klägerischen Fahrzeuges unterwegs gewesen ist. Er ist die Boltenhagener Straße mit mindestens 95 km/h entlanggefahren, obwohl dort eine Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h zulässig war.
In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitungen durch Vorfahrtsberechtigte zu einer Mithaftung des Vorfahrtsberechtigten im erheblichen Umfange führen kann (dazu Rechtsprechungsübersicht bei Hentschel-König, § 8 StVO Rn. 69a). Das Kammergericht Berlin hat in seinem Urteil vom 22.06.1992, 12 U 7008/91 (DAR 1992/433), die Auffassung vertreten, dass bei einer 100 %-igen Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit eine Alleinhaftung des Vorfahrtsberechtigten in Betracht kommt. Auf dieser Linie liegen auch die Entscheidungen des Kammergerichts Berlin vom 05.04.2004, 12 U 326/02, und vom 31.01.1994, 12 U 3121/92.
Das erkennende Gericht ist für den hier streitgegenständlichen Fall der Auffassung, dass die Klägerin den ihr entstandenen Schaden allein zu tragen hat. Nach den Feststellungen des Sachverständigen ... im Einklang mit den Feststellungen, die im Gutachten des Sachverständigen ... enthalten sind, ist davon auszugehen, dass der streitgegenständliche Verkehrsunfall für den Fahrer des klägerischen Fahrzeuges bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h leicht vermeidbar gewesen wäre.
Schwer hat sich der Sachverständige ... mit der Frage getan, ob eine Vermeidbarkeit des Verkehrsunfalles auch für den Beklagten zu 1) bejaht werden könne oder nicht. Für den Fall, dass von einer Sichtbehinderung auszugehen wäre, nämlich dass in Höhe des Baumes auf der Boltenhagener Straße ein Fahrzeug abgestellt war, wie der Beklagte zu 1) in seiner Anhörung angegeben hat, wäre von einer Unvermeidbarkeit auszugehen. In diesem Fall würde eine Haftung der Beklagten schon mangels Vermeidbarkeit des streitgegenständlichen Verkehrsunfalles ausscheiden. Das Gericht ist aber der Auffassung, dass - selbst wenn eine Sichteinschränkung in der beschriebenen Weise nicht oder nicht vollständig vorgelegen hätte - bei der Fahrweise, die der Fahrer des klägerischen Fahrzeuges an den Tag gelegt hat, selbst bei einer annehmbaren Vermeidbarkeit eine Haftung der Beklagten nicht in Betracht kommt (§ 17 Abs. 3 StVG). Aus dem Unfallhergang selbst ergibt sich, dass das Einfahren des Beklagten zu 1) in den Kreuzungsbereich zwar die Ursache für die Reaktion des Fahrers des klägerischen Fahrzeuges gesetzt hatte - eine andere Erklärung ist nicht wirklich ersichtlich- dass aber der Unfallhergang - das Abkommen von der Fahrbahn mit einem Audi TT, der mit allen technischen Einrichtungen ausgestattet ist, die das verhindern sollen, das Fahren gegen einen Lichtmast ohne Berührung des Beklagtenfahrzeuges- darauf hindeutet, dass der Unfall sein maßgebliches Gepräge in der deutlich überhöhten Geschwindigkeit um bewiesenermaßen fast 100% gehabt hat, mit der das klägerische Fahrzeug gefahren wurde. Das wiegt in diesem Fall so schwer, dass ausnahmsweise die vom wartepflichtigen Beklagtenfahrzeug gesetzte Betriebsgefahr zurücktritt.
II.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in den §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.