In nach § 828 Abs. 2 S. 1 BGB a.F. zu beurteilenden Fällen ist in aller Regel die Verantwortlichkeit (Einsichtsfähigkeit) von Kindern bis zur Vollendung des 10. Lebensjahres zu verneinen, sofern es um lediglich fahrlässiges Verhalten bei Verkehrsunfällen mit Kraftfahrzeugen geht; mangelnde Einsichtsfähigkeit i.S.v. § 828 Abs. 2 S. 1 BGB a.F. steht auch der Zurechnung eines Mitverschuldens nach §§ 9 StVG, 254 BGB entgegen.
Gründe:
Der zum Unfallzeitpunkt acht Jahre alte Kläger befuhr mit dem Fahrrad einen gepflasterten in die F. Straße einmündenden und von dieser durch eine abgesenkte Bordsteinkante abgegrenzten Verbindungsweg. Ohne anzuhalten fuhr er auf die Fahrbahn der F. Straße und geriet dabei unter den von rechts kommenden LKW der Beklagten zu 2. und wurde schwer verletzt.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung führte zur Feststellung der gesamt-schuldnerischen Haftung der Beklagten zu 2. und zu 3. (Halter und Haftpflichtversicherer).
Aus den Gründen:
Ein dem Kläger zurechenbares fahrlässiges Mitverschulden (§§ 9 StVG, §§ 254 Abs. 1 i.V.m. einer entsprechenden Anwendung von § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB a.F.) liegt nicht vor. Zur Überzeugung des Senats hatte der seinerzeit achtjährige Kläger nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht im Sinne von 828 Abs. 2 Satz 1 BGB a.F. Er verfügte nicht über die intellektuelle Fähigkeit, die ihn in den Stand versetzt hätte, das Unrecht seines Verhaltens zu erkennen. Die Materialien zur Neufassung des § 828 Abs. 2 BGB, wonach Kinder, die das 10. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, für Schäden im Zusammenhang von Unfällen mit Kraftfahrzeugen grundsätzlich nicht verantwortlich sind (Ausnahme nur für Vorsatztaten von Kindern, die das 7. Lebensjahr vollendet haben), tragen neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung, die zu einer Verneinung der Einsichtsfähigkeit des Klägers führen. Danach entspricht es mittlerweile gesicherten Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie, dass es Kindern regelmäßig bis zum 10. Lebensjahr nicht möglich ist, Entfernungen und Geschwindigkeiten richtig einzuschätzen, und dass einer Haftung kindliche Eigenheiten wie Lauf- und Erprobungsdrang, Impulsivität, Affektreaktionen, mangelnde Konzentrationsfähigkeit und gruppendynamisches Verhalten entgegen stehen (so insbesondere BT-Drucks 14/7752 S. 16; vgl. dazu auch Hentschel, NZV 2002, 433 <442>). Es kommt daher gar nicht mehr darauf an, dass sich diese Erkenntnisse mit denen decken, die der Senat - was in der mündlichen Verhandlung erörtert worden ist - in dem Verfahren 9 U 36/95 aufgrund sachverständiger Begutachtung gewonnen hat. Der Senat legt daher zugrunde, dass auch bei "Altfällen", die nach 828 Abs. 2 Satz 1 BGB a.F. zu beurteilen sind, in aller Regel die Einsichtsfähigkeit von Kindern bis zur Vollendung des 10. Lebensjahres zu verneinen ist, sofern es lediglich um fahrlässiges Verhalten bei Verkehrsunfällen mit Kraftfahrzeugen geht. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger entgegen dieser Regel gleichwohl die hier in Rede stehende Einsichtsfähigkeit hatte, haben die Beklagten nicht aufgezeigt. Etwas anderes folgt nicht daraus, dass der Kläger infolge einer unzutreffenden rechtlichen Bewertung zunächst selbst von einem zurechenbaren Mitverschulden ausgegangen ist. Der Abkehr von dem zunächst eingenommen Rechtsstandpunkt steht nicht der Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) entgegen.
Endlich bestehen für eine Anspruchskürzung unter Billigkeitsgesichtspunkten nach §§ 9 StVG, 254 Abs. 1 i.V.m. einer entsprechenden Anwendung von § 829 BGB (vgl. dazu Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 36. Auflage, § 9 StVG, Rdnr. 12) keine Anhaltspunkte.
Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 92, 97 Abs. 1, 100, 708 Nr. 10 und 711 ZPO. Die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, weil sich der Senat bei der Auslegung des § 828 Abs. 2 BGB a.F. im Rahmen der höchstrichterlichen Rechtsprechung hält und lediglich bei der Tatsachenfeststellung neueren gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung trägt. Es kann daher offen bleiben, ob § 543 Abs. 2 ZPO nicht ohnehin mit Blick auf sog. "auslaufendes Recht" teleologisch zu reduzieren ist.