Wer eine wartende Fahrzeugreihe links überholt, muss an einer Kolonnenlücke vor einer Grundstücksausfahrt nicht mit Querverkehr durch die Lücke rechnen. Kommt es zwischen dem Überholenden und dem auf die Fahrbahn Einfahrenden zu einem Unfall, so kommt keine Mithaftung des Bevorrechtigten zum Zuge. Insbesondere findet der Grundsatz, dass derjenige, der eine wartende Fahrzeugsschlange überholt, für den Querverkehr freigelassene Lücken an Kreuzungen und Einmündungen beachten und dort mit Querverkehr rechnen muss, an Grundstücksausfahrten keine Anwendung.
Gründe:
I.
Die Klägerin macht aus übergegangenem Recht gem. § 116 SGB X Schadensersatzansprüche aufgrund eines Verkehrsunfalles vom 31.07.2001 ihres Versicherten ... geltend. Dieser befuhr gegen 10.50 Uhr im Seebad Heringsdorf die Neuhofer Straße in Richtung Ahlbeck, wobei er eine auf dieser Straße in seiner Fahrtrichtung stehende Fahrzeugkolonne überholte. Der Beklagte zu 1) wollte mit seinem Pkw Golf, der bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert ist, gleichzeitig aus dem Grundstück Neuhofer Straße 19 heraus nach links auf die Neuhofer Straße in Richtung Bansin auffahren. Dabei nutzte er eine Lücke aus, die ihm ein in der Kolonne befindliches Fahrzeug gelassen hatte. Bei dem Einbiegevorgang kam es zu einer Kollision zwischen dem Pkw des Beklagten zu 1) und dem Motorrad des Zeugen .... Das Motorrad streifte die vordere rechte Seite des VW Golf, als dieser seine Fahrspur kreuzte.
Zu den Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes nimmt der Senat Bezug auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils, mit dem das Landgericht der Klage dem Grunde nach stattgab. Der Einzelrichter erhob Beweis durch Zeugenvernehmung und Einholung eines Sachverständigengutachtens. Der Sachverständige Dr. ... stellte fest, dass sich der Pkw Golf bei dem Zusammenstoß in einer Vorwärtsbewegung befand und dass der Zeuge ... mit einer Geschwindigkeit von 32 km/h bis 54 km/h gefahren sei.
Gegen das Grundurteil des Landgerichts richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der sie erreichen wollen, dass die Haftung dem Grunde nach nur zu 75 % festgestellt wird.
Zur Begründung tragen die Beklagten vor, das Landgericht habe zu Unrecht jegliche Mithaftung des versicherten ... zurücktreten lassen. Dieser habe trotz unklarer Verkehrslage überholt. Ein Lkw habe ihm durch Betätigung der Lichthupe zu verstehen gegeben, dass er warten würde. Diesen Umstand habe die Zeugin ... im Oktober angegeben. Dem versicherten ... habe klar sein müssen, dass er überhaupt nicht abschätzen konnte, wo ihm ein gefahrloses Beenden seines langen Überholmanövers möglich sein werde. Dies wäre ohne Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer nicht möglich gewesen. Der Zeuge ... hätte das Anhalten der Fahrzeugkolonne bei halbwegs konzentrierter Fahrweise wahrnehmen müssen und damit rechnen müssen, dass ein anderes Fahrzeug aus der Grundstücksausfahrt auf die Neuhofer Straße auffahren wollte. Deswegen habe eine unklare Verkehrslage bestanden. Auch die von dem Sachverständigen ermittelte Mindestgeschwindigkeit von 32 km/h sei in der konkreten Situation deutlich zu hoch gewesen. Der Versicherte sei zumindest zu 25 % in Ansehung der besonderen Verkehrssituation für die Entstehung des Unfalls verantwortlich. Die Betriebsgefahr des Motorrades könne keinesfalls völlig zurücktreten.
Die Beklagten beantragen,das Grundurteil des Landgerichts Stralsund vom 30. April 2009 aufzuheben und dahingehend abzuändern, dass die Klage dem Grunde nach nur zu 75 % gerechtfertigt und im Übrigen abzuweisen ist.Die Klägerin beantragt,die Berufung zurückzuweisen.Sie verteidigt das angefochtene Urteil unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrages.
II.
Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.
Die Klage hat dem Grunde nach zu 100 % Erfolg. Dies hat das Landgericht richtig durch - auch hinsichtlich des Feststellungsantrages zulässigen (Zöller-Vollkommer, 27. Aufl., § 304, Rdn. 3, 12), - Grundurteils gem. § 304 Abs. 1 ZPO festgestellt. Hinsichtlich der Feststellungsklage handelt es sich um ein Teil-Endurteil (Zöller, a. a. O.).
Der Klägerin steht ein Anspruch aus übergeleitetem Recht des Geschädigten ... gem. §§ 116 SGB X, 7 Abs. 1 StVG i.V.m. § 3 PflVersG a.F. zu.
Obwohl mehrere Fahrzeuge an dem Verkehrsunfall beteiligt waren, ist keine Quote gem. § 17 StVG zu Lasten des bei der Klägerin Versicherten ... zu bilden. Der Beklagte zu 1) verstieß eindeutig in schwerwiegender Weise gegen § 10 StVO. Danach muss derjenige, der aus einem Grundstück auf die Straße einfahren will, sich so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist; erforderlichenfalls hat er sich einweisen zu lassen. So lag es hier, denn der Beklagte zu 1) wollte von einem Grundstück auf die öffentliche Straße nach links einfahren.
Es liegt kein sogenannter "Lückenfall" vor. Wer eine wartende Kfz-Schlange überholt, muss für den Querverkehr freigelassene Lücken an Kreuzungen und Einmündungen beachten und dort mit Querverkehr rechnen (Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl., Rdn. 41 zu § 5 StVO m.w.N.; BayObLG NJW 1965, 1341; KG, Urteil vom 12.11.1973, 12 U 873/73; BGH VersR 1969, 756; OLG Koblenz VersR 1981 1136; OLG Hamm NZV 1992, 238; AG Siegburg Schadenpraxis 1998, 48; LG Neuruppin Schadenpraxis 1997, 460). Die vorstehend zitierten Entscheidungen betreffen Fälle, in denen dem Vorfahrtsberechtigten ein Verkehrsverstoß vorzuwerfen war (Überfahren einer durchgezogenen Linie und Sperrfläche, unzulässiges Überholen, Überholen im Kreuzungsbereich).
Die Rechtsprechung zu den sog. Lückenfällen ist hier nicht einschlägig. Wer eine wartende Fahrzeugreihe links überholt, muss nicht mit Fahrzeugen rechnen, die etwa nach Parken auf dem Gehweg eine Kolonnenlücke kreuzen, er muss auch nicht an einer Kolonnenlücke vor einer Grundstücksausfahrt mit Querverkehr durch die Lücke rechnen (Hentschel/König/Dauer a.a.O.; KG DAR 1976, 213; LG Oldenburg DAR 1995, 449). Abweichendes kann für den Linksüberholenden gelten, wenn ein Fahrzeug der fahrenden Kolonne erkennbar hält, um einem von rechts aus einer Ausfahrt Kommenden das Einbiegen zu ermöglichen (OLG Koblenz VersR 81, 1136). In diesem, vom OLG Koblenz entschiedenen Fall, hatte allerdings der überholende Motorradfahrer ein Überholverbot missachtet. So lag es hier nicht. Der Senat folgt der Rechtsprechung des Kammergerichts und der des OLG Düsseldorf (DAR 1976, 213; VersR 1981 556), wonach die Rechtsprechung zu den sogenannten Lückenfällen grundsätzlich nicht auf Fälle anzuwenden ist, in denen ein Kraftfahrer aus einer Grundstücksausfahrt unter Benutzung einer Lücke nach links in die Gegenrichtung zu gelangen versucht. Zu Recht weist das Kammergericht darauf hin, dass die Grundsätze für Lücken in Kolonnen im Bereich von Straßenkreuzungen und Einmündungen entwickelt worden sind. Sie stellen eine Ausnahme von dem bei Kreuzungen und Einmündungen zu Gunsten des Vorfahrtsberechtigten geltenden Vertrauensgrundsatz, da dessen Anwendung haftungsrechtlich in der Regel zur alleinigen Verantwortlichkeit des Wartepflichtigen führt. Die Rechtsprechung in Lückenfällen stellt eine Ausprägung der sich aus § 1 Abs. 2 StVO ergebenden allgemeinen Pflichten der Verkehrsteilnehmer in besonderen Situationen dar. Sie ergänzt die zur Lösung der sich aus dem modernen Massenverkehr in Großstädten ergebenden Verkehrsprobleme durch die StVO 1970 geschaffenen Regelung des § 11 Abs. 1 StVO, indem sie der Möglichkeit von Querverkehr unter Benutzung von Lücken in Kolonnen in Höhe von Straßenkreuzungen und Einmündungen in angemessener Weise Rechnung trägt. Eine generelle Ausdehnung der Grundsätze, welche nur als Ausnahme zu verstehen sind, über die genannten Fälle von Straßenkreuzungen und Einmündungen hinaus auch auf Grundstücksausfahrten erscheint nicht gerechtfertigt (KG a.a.O.). Den Benutzer einer Grundstücksausfahrt treffen gegenüber den Teilnehmern des fließenden Verkehrs im Gegensatz zu den Pflichten des Wartepflichtigen gegenüber dem Vorfahrtsberechtigten (§ 8 StVO) oder des Abbiegers wesentlich strengere Pflichten, denn er muss sein Verhalten so einrichten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer generell ausgeschlossen ist (§ 10 S. 1 StVO). Eine ausdehnende Anwendung der zu Lückenfällen entwickelten Grundsätze auch auf normale Grundstücksausfahrten würde zu einer unzumutbaren Belastung für den fließenden Verkehr führen. Wenn das Verlassen einer Grundstücksausfahrt schon allein nur unter besonderen Vorsichtsmaßnahmen durchgeführt werden darf, besteht beim Einfahren auf die Fahrbahn nach links von einem Grundstück aus durch Lücken in zum Stehen gekommene Kolonnen in erhöhtem Maße Veranlassung zur Vorsicht, weil es sich hierbei um ein außerordentlich gefährliches Fahrmanöver handelt. Bei erheblichem Verkehrsaufkommen ist es dem von einem Grundstück Ausfahrenden ohne Weiteres zuzumuten, von einem Einfahren in die Fahrbahn nach links Abstand zu nehmen und eine etwaige Lücke in zum Stillstand gekommenen gestauten Verkehr dazu zu benutzen, um sich zunächst nach rechts in den Verkehrsstrom einzuordnen und dann später die gewünschte Fahrtrichtung bei erster sich bietender Gelegenheit, z. B. durch mehrfaches Abbiegen nach rechts oder links, ohne besondere Gefährlichkeit beim Einfahren auf die Fahrbahn selbst und ohne die besonderen Pflichten aus § 10 S. 1 StVO zu erreichen. Nach dem Sinn dieser Bestimmung ist ein sofortiges Gelangen in die Gegenrichtung unmittelbar nach dem Einfahren auf die Fahrbahn wegen der damit zwangsläufig verbundenen Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer bei dichtem Verkehrsaufkommen durch gestaute Kolonnen hindurch in der Regel gar nicht möglich und daher untersagt. Mit einem derartig verkehrswidrigem Verhalten von Benutzern einer Grundstücksausfahrt braucht der an langsam fahrenden oder zum Stillstand kommende Kolonnen verbeifahrende Kraftfahrer daher auch nicht ohne Weiteres zu rechnen.
Der Beklagte zu 1) haftet alleine und die Betriebsgefahr des Motorrades tritt völlig zurück. Er musste sich langsam in die Kreuzung vortasten, indem er jeweils nur wenige Zentimeter vorrollte und dann wieder anhielt und dieses Fahrmannöver mehrmals wiederholte (OLG Düsseldorf VersR 1976, 1179). So hat sich der Beklagte zu 1) nachweislich nicht verhalten, denn nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. ..., an denen zu zweifeln für den Senat kein Anlass besteht, befand sich der Pkw des Beklagten zu 1) zum Zeitpunkt der Kollision in einer vorwärtsgerichteten Fahrbewegung. Der Beklagte zu 1) muss bereits relativ weit nach links eingebogen sein, denn die Schäden an seinem Pkw befanden sich vorne rechts. Dies bedeutet, dass der Beklagte zu 1) sich bereits nach links herum bewegt haben muss, also nicht gerade gestanden hat.
Dem Zeugen ... war das Überholen der vor einer Ampelanlage im Stau stehenden Fahrzeugkolonne im Bereich der Neuhofer Straße in Heringsdorf erlaubt. Seine Geschwindigkeit war angemessen. Zu Ungunsten des Zeugen kann allenfalls die von dem Sachverständigen errechnete Mindestgeschwindigkeit von 32 km/h unterstellt werden. Diese Geschwindigkeit war angesichts der herrschenden Verkehrsverhältnisse nicht überhöht. Dem Zeugen ... kann auch nicht vorgeworfen werden, dass er zu nahe an der Fahrzeugkolonne vorbeigefahren ist. Dies ergibt sich aus den Schäden an den Fahrzeugen. Die Beschädigungen am Fahrzeug des Beklagten zu 1) traten an der rechten vorderen Fahrzeugecke ein. Dies bedeutet, dass der Beklagte zu 1) bereits mit der rechten vorderen Seite in die Gegenfahrspur geraten war. Es war auch nicht so, dass der Zeuge ... versucht hätte, sich in die für den Beklagten zu 1) offen gelassene Lücke hineinzudrängen. Diesen Vortrag der Beklagten haben weder die Zeugen noch der Sachverständige in der Beweisaufnahme vor dem Landgericht bestätigt.
An dieser Beurteilung würde sich auch dadurch nichts ändern, wenn ein aus der Richtung Ahlbeck kommender Lkw durch Blinkzeichen zu verstehen gegeben haben sollte, dass der Beklagte zu 1) auf die Fahrbahn auffahren dürfe. Diese Tatsache hat das Landgericht indes rechtsfehlerfrei nicht als bewiesen angesehen. Die Beweiswürdigung des Einzelrichters ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
III.
Die Nebenentscheidungen ergehen gem. den §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO. Den Beklagten mussten die Kosten des Berufungsverfahrens auferlegt werden.
Wird die Berufung des Beklagten gegen das Grundurteil in vollem Umfang zurückgewiesen, so sind ihm gem. § 97 Abs. 1 ZPO schon in diesem Urteil die Kosten des Berufungsverfahrens aufzuerlegen, auch wenn die Klage im Schlussurteil letztlich ganz oder teilweise abgewiesen wird (Zöller/Vollkommer, ZPO, 28. Aufl., Rn. 1 zu § 97 und 26 zu § 304 m.w.N.; BGHZ 20, 397).
Zur Zulassung der Revision bestand kein Anlass.