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"Die Annahme eines zur gelegentlichen Einnahme von Cannabis hinzutretenden Gebrauchs von Alkohol oder anderen psychoaktiv wirkenden Stoffen im Sinn der zweiten Alternative der Nummer 9.2.2 setzt entgegen der vom Kläger vertretenen Auffassung nicht voraus, dass sich der Betroffene beide Substanzen gleichzeitig zugeführt hat ("handlungsbezogene Betrachtungsweise"). Entscheidend - wenngleich ggf. nicht ausreichend - ist vielmehr, dass Ethanol und Tetrahydrocannabinol (bzw. eine sonstige psychoaktiv wirkende Substanz) gleichzeitig dergestalt im Körper eines Menschen vorhanden sind, dass es zu einer Überlappung ihrer Wirkungen kommen kann ("wirkungsbezogene Betrachtungsweise"). Denn einen der Gründe für die Aufnahme dieser Tatbestandsalternative in die Nummer 9.2.2 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung bildet der Umstand, dass sich die Wirkungen von Alkohol und Cannabis, wenn eine Person gleichzeitig unter dem Einfluss dieser Substanzen steht, potenzieren und sich hieraus besondere Gefahren für den Straßenverkehr ergeben können (so z.B. VGH BW vom 10.2.2006 DÖV 2006, 483/484; vgl. zu den additiven und ggf. sogar synergistischen Effekten von Ethanol und THC u. a. die Darlegungen auf den Seiten 19 f. des Gutachtens vom 9.1.2012). Zu einer Kumulation der berauschenden Wirkungen von Alkohol und Cannabis aber kann es auch dann kommen, wenn beide Substanzen zeitversetzt eingenommen wurden und der Konsument im Zeitpunkt der Aufnahme des dem Körper später zugeführten Rauschmittels noch unter der Wirkung der zunächst genossenen Substanz stand. Auf die Richtigkeit der Behauptung des Klägers, der Cannabiskonsum, der zu der bei ihm am 11. Juni 2006 festgestellten THC-Konzentration von 2,1 µg/L geführt hat, habe viele Stunden vor dem Beginn der Alkoholaufnahme stattgefunden, kommt es deshalb nicht entscheidungserheblich an. Das gilt umso mehr, als nach den Feststellungen im Gutachten vom 9. Januar 2012 (vgl. S. 12 unten und S. 18 unten) auch eine THC-Konzentration von 2,1 µg/L selbst dann noch subakute (Rest-)Wirkungen zeitigen kann, wenn - was nach den überzeugenden Darlegungen im Gutachten vom 9. Januar 2012 (vgl. die Ausführungen im Abschnitt II.2 dieser Ausarbeitung) äußerst unwahrscheinlich ist - die Behauptung des Klägers über den zwischen dem Rauchvorgang und der Blutentnahme liegenden zeitlichen Abstand zutreffen sollte.
Der Verwaltungsgerichtshof lässt es ausdrücklich dahinstehen, ob es sachlich gerechtfertigt ist, den Tatbestand der zweiten Alternative der Nummer 9.2.2 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung auch dann als erfüllt anzusehen, wenn sich beide Substanzen - oder auch nur eine von ihnen - lediglich in sehr geringen Mengen im Körper des Betroffenen befunden haben (vgl. zu den Konzentrationen, bis zu denen ein Mischkonsum beider Substanzen zu keiner feststellbaren Erhöhung des Risikos führt, einen Verkehrsunfall zu verursachen, Krüger, Gutachten vom 15.8.2001, S. 10; siehe zu den insoweit aufgeworfenen Fragen ferner BayVGH vom 15.9.2009, a.a.O., RdNrn. 39 f.). Anlass, in diesen Fällen die Notwendigkeit einer teleologischen Reduktion dieser Bestimmung in Erwägung zu ziehen, könnte allerdings im Hinblick darauf bestehen, dass nach einer von Ballard u. a. durchgeführten Untersuchung (Combined effects of acute, very-low-dose ethanol and delta(9)-tetrahydrocannabinol in healthy human volunteers, Pharmacology, Biochemistry and Behavior, 97 [2011], S. 627-631) die Kombination von Ethanol und oral aufgenommenem Cannabis dann keine synergistischen (und in einigen Fällen auch weniger als additive) Effekte zeitigt, wenn beide Rauschmittel nur in sehr niedrigen Dosen verabreicht wurden (vgl. dazu das Gutachten vom 9.1.2012, S. 20). Die gleiche Notwendigkeit könnte sich ferner daraus ergeben, dass nach der Studie von Longo u. a. (The role of alcohol, cannabinoids, benzodiazepines and stimulants in road crashes, in: H. Laurell, Alcohol, Drugs und Traffic Safety, Stockholm, 2000) ausweislich der Wiedergabe der Ergebnisse dieser Untersuchung in dem von Krüger am 15. August 2001 für das Bundesverfassungsge-richt gefertigten Gutachten (vgl. dort S. 10, Abbildung 3) die Wahrscheinlichkeit, dass Personen, deren Blutalkoholkonzentration unter 0,5 ‰ liegt und die zugleich unter dem Einfluss von Drogen (jedweder Art und in beliebiger Konzentration) stehen, einen Verkehrsunfall verursachen, sogar niedriger liegt als bei solchen Verkehrsteilnehmern, die ausschließlich Alkohol in einer Menge zu sich genommen haben, die zu einer unter 0,5 ‰ liegenden Blutalkoholkonzentration führt. Auch dann, wenn eine solche Eingrenzung der Voraussetzungen, unter denen der Tatbestand der zweiten Alternative der Nummer 9.2.2 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung erfüllt ist, entweder generell nicht geboten sein sollte oder sie im konkreten Fall ins Leere ginge, weil die beim Kläger bestehenden Alkohol- und/oder THC-Konzentrationen während der Zeit, in der er am 10. bzw. 11. Juni 2006 unter dem gleichzeitigen Einfluss beider Rauschmittel stand, jenseits einer ggf. anzunehmenden "Geringfügigkeitsschwelle" gelegen haben sollten, stünde weder im Sinn von § 11 Abs. 7 FeV fest, dass er wegen eines Mischkonsums von Alkohol und Cannabis die Fahreignung verloren hat, noch wäre die Fahrerlaubnisbehörde nach § 14 Abs. 1 Satz 4 FeV a.F. (diese Norm stimmte mit § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV heutiger Fassung wortgleich überein) ermächtigt gewesen, vom Kläger die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Fahreignungsgutachtens zu verlangen. Dies folgt aus einer verfassungskonformen Auslegung des § 11 Abs. 7 FeV und des § 14 Abs. 1 Satz 4 FeV a.F. bzw. des § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV heutiger Fassung."
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