Erfolgt eine Verurteilung wegen eines Alkoholdelikts, so greift die gesetzliche Vermutung, dass der Täter charakterlich ungeeignet ist, ein Kfz im öffentlichen Straßenverkehr zu führen (Regelvermutung).
Das Strafgericht entzieht in einem solchen Fall die Fahrerlaubnis und setzt einen Zeitraum fest, vor dessen Ablauf die Fahrerlaubnisbehörde keine neue Fahrerlaubnis erteilen darf (Sperrfrist). Allerdings ist das Gericht berechtigt, eine verhängte Sperre beim Vorliegen von nachträglichen neuen Tatsachen abzukürzen oder aufzuheben.
Aus dem Verhältnis von Regelfällen zu Ausnahmen folgt, dass interessant die Fallgestaltungen sind, in denen Gerichte in Trunkenheitsfällen gleichwohl von der Entziehung der Fahrerlaubnis abgesehen haben.
OLG Düsseldorf v. 07.01.1988:
Der Täter ist gemäß § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB "in der Regel" als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen, wenn - wie hier - die rechtswidrige Tat ein Vergehen der fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr ist, so dass es im "Normalfall" bei einem solchen Vergehen einer näheren Begründung nicht bedarf, wenn die Fahrerlaubnis entzogen wird. Der Tatrichter kann sich dann darauf beschränken, summarisch auszuführen, dass er den Regelfall für gegeben erachtet.
OLG Düsseldorf v. 07.01.1988:
Der Regelfall für die Entzug der Fahrerlaubnis ergibt sich nicht "automatisch" aus der Verwirklichung des Tatbestandes des § 316 StGB. Eine Indizwirkung für die Ungeeignetheit des Kraftfahrers liegt bei Verwirklichung des § 316 StGB nur insoweit vor, als dieser nach seiner Persönlichkeit dem Durchschnitt der Kraftfahrer entspricht und die Tat gegenüber der Masse der vorkommenden entsprechenden Taten keine wesentlichen Besonderheiten aufweist. Liegen hingegen Besonderheiten in der Person des Täters, in der Tat oder sonst in der Nachtatsituation vor, die einen so wesentlichen Unterschied von dem Durchschnittsfall kennzeichnen, dass sie eine Ausnahme von der Regel rechtfertigen können, muss erkennbar sein, dass die Möglichkeit der Ausnahme geprüft worden ist.
AG Hameln v. 06.02.2008:
Handelt es sich bei der Trunkenheitsfahrt um ein Augenblicksversagen und hat der Angeklagte sich nach der Tat selbst bei der Polizei gestellt und sodann an einem Nachschulungskurs des TÜV erfolgreich teilgenommen, so kann von der Entziehung der Fahrerlaubnis abgesehen und statt dessen ein dreimonatiges Fahrverbot verhängt werden.
VGH Mannheim v. 18.06.2012:
Entziehung der Fahrerlaubnis im Sinne des § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d FeV ist auch die strafgerichtliche Entziehung aufgrund von § 69 StGB.
LG Wuppertal v. 29.04.2014:
Bei günstiger Prognose für den Angeklagten, die sich aus beruflicher Entwicklung, persönlicher Entwicklung, verkehrsgerechtem Verhalten, Teilnahme an einem verstoßbezogenen Kurs oder Seminar und nachvollziehbarer Einsicht und Verhaltensänderung ergeben kann, kann von der Regelvermutung nach § 69 Abs. 2 StGB abgewichen werden.
LG Kaiserslautern v. 07.04.2014:
Die Frage, ob bei Vorliegen der gesetzlichen Regelvoraussetzungen bei einer Trunkenheitsfahrt von der Entziehung der Fahrerlaubnis ermessensfehlerfrei abgesehen werden kann, entzieht sich einer schematischen Beantwortung. Von der Entziehung kann berücksichtigt werden, dass der Angeklagte Ersttäter und bisher weder im Straßenverkehr noch sonst strafrechtlich auffällig gewesen ist, dass er lediglich eine kurze Fahrtstrecke zurückgelegt hat, dass er glaubhaft seine Alkoholabstinenz in der Hauptverhandlung versichern konnte und darüber hinaus sich im Zuge der durchgeführten Nachschulung beim TÜV Süd umfangreich mit den Hintergründen der hierzu ahndenden Straftat und der Erarbeitung einer kritischen Problemsicht befasst hat.
LG Berlin v. 28.05.2014:
Das Fehlen einer beweiskräftigen Blutprobe steht der Annahme einer relativen Fahruntauglichkeit nicht zwangsläufig entgegen. Von einer relativen Fahruntauglichkeit ist auch dann auszugehen, wenn sich diese auf Grund einer Gesamtwürdigung aller sonstigen objektiven und subjektiven Umstände ergibt. Dabei müssen den zugrunde liegenden Indizien und ihrer Gesamtwürdigung eine außergewöhnliche, überdurchschnittliche Überzeugungskraft zukommen.
BGH v. 29.04.2021:
Nach § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB begründet die Begehung einer Straftat nach § 316 StGB eine Regelvermutung für die Ungeeignetheit des Täters zum Führen von Kraftfahrzeugen im Sinne des § 69 Abs. 1 Satz 1 StGB mit der Folge der Entziehung der Fahrerlaubnis oder, wenn der Täter - wie hier der Angeklagte - keine Fahrerlaubnis hat, einer isolierten Sperre nach § 69a Abs. 1 Satz 3 StGB. Enthalten die Urteilsgründe trotz einer Verurteilung unter anderem wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr (§ 316 Abs. 1, 2 StGB) keine Ausführungen zu einer Maßregelanordnung nach § 69, § 69a StGB, stellt dies einen zur Aufhebung führenden Erörterungsmangel dar.
LG Berlin v. 28.05.2014:
Nach § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB begründet die Begehung einer Straftat nach § 316 StGB eine Regelvermutung für die Ungeeignetheit des Täters zum Führen von Kraftfahrzeugen im Sinne des § 69 Abs. 1 Satz 1 StGB mit der Folge der Entziehung der Fahrerlaubnis oder, wenn der Täter - wie hier der Angeklagte - keine Fahrerlaubnis hat, einer isolierten Sperre nach § 69a Abs. 1 Satz 3 StGB. Enthalten die Urteilsgründe trotz einer Verurteilung unter anderem wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr (§ 316 Abs. 1, 2 StGB) keine Ausführungen zu einer Maßregelanordnung nach § 69, § 69a StGB, stellt dies einen zur Aufhebung führenden Erörterungsmangel dar.
AG Essen v. 12.01.2022:
Befährt der alkohoöbediingt absolut fahruntaugliche Führer eines E-Scooters sonntags nachts den Gehweg, liegt kein Regelfall für den vorläufigen Entzug der Fahrerlaubnis vor.
LG Wuppertal v. 02.02.2022:
Der für Kraftfahrer ermittelte Grenzwert von 1,1 Promille ist auch auf Führer von E-Scootern anzuwenden.
KG Berlin v. 31.05.2022:
Auch gegen einen alkoholbedingt fahrunsicheren Fahrer eines E-Scooters können die Maßregeln nach §§ 69, 69a StGB angeordnet werden.
OLG Hamm v. 10.11.2015:
An eine Widerlegung der Regelvermutung des § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB sind nochmals gesteigerte Anforderungen zu stellen, sofern es sich um einen Wiederholungstäter handelt, gegen den bereits früher Maßregeln nach §§ 69, 69a StGB verhängt worden sind. . Gegebenenfalls bedarf es der Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens (Gutachten einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung, § 11 Abs. 3 Satz 1 FeV), das sich eingehend und nach Maßgabe anerkannter Begutachtungsrichtlinien zur Eignung des Angeklagten, Kraftfahrzeuge im Straßenverkehr zu führen, verhält.
OLG Düsseldorf v. 07.01.1988:
Hat der Angeklagte in fahruntüchtigem Zustand seinen auf einem Parkplatz abgestellten PKW lediglich wenige Meter versetzt, um ihn ordnungsgemäß zu parken, kann davon ausgegangen werden, dass es sich nicht um einen Regelfall im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB handeln muss mit der Folge, dass von der Entziehung der Fahrerlaubnis abgesehen werden kann.
LG Oldenburg v. 08.09.1989:
Aus dem Führen eines Leichtmofas in fahruntüchtigem Zustand kann nicht generell auf die Ungeeignetheit zum Führen von Kfz geschlossen werden; es muß vielmehr auch bei der sogenannten Regelnorm des § 69 Abs. 2 StGB zusätzlich noch Tathergang und insbesondere Täterpersönlichkeit eingehend geprüft werden, ob der Täter nach den Gesamtumständen als ungeeignet zum Führen von Kfz anzusehen ist.
LG Gera v. 05.07.1999:
Keine Entziehung der Fahrerlaubnis bei kurzer Fahrstrecke und geringer Geschwindigkeit
OLG Karlsruhe v. 12.10.2000:
Das Maß der Ungeeignetheit beurteilt sich nach der konkreten Anlasstat, so dass bei der Bestimmung der Ungeeignetheit auch alle zugunsten des Angeklagten sprechenden Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind; dazu gehört auch, dass von einer geplanten Fahrtstrecke von 350 m nur 300 m tatsächlich zurückgelegt wurden.
AG Saalfeld v. 15.02.2005:
Auch beim Vorliegen einer Indiztat i.S.d. § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB kann kein Regelfall angenommen werden, der die Entziehung der Fahrerlaubnis (hier: für Leicht- und Kleinkrafträder) gebietet, wenn die in Rede stehende Trunkenheitsfahrt mit einem Pkw ohne Fahrerlaubnis zu nachtschlafender Zeit und innerhalb eines öffentlichen Parkplatzes stattfand und der Täter - als Jugendlicher - das Kraftfahrzeug nur ein kurzes Stück mit geringer Geschwindigkeit bewegt hat.
Wiederherstellung der Geeignetheit bis zum Urteil:
LG Dresden v. 11.03.2002:
Die erfolgreiche Teilnahme an einer sich über mehrere Monate erstreckenden Verkehrstherapie begründet bei der Prüfung einer Verkürzung der Sperrfrist nach § 69a Abs. 7 S. 1 StGB regelmäßig die Annahme, dass der Eignungsmangel weggefallen ist.
AG Bad Hersfeld v. 22.09.2004:
Hat der Angeklagte nach der Tat entscheidende Schritte (Anschluss an eine Beratungsstelle der Diakonie und Absolvierung eines Kurses zum sog. kontrollierten Trinken) unternommen, um eine Wiederholung der Tat auszuschließen, dann kann trotz Vorliegens eines Regelfalls seine Ungeeignetheit zum Führen von Kfz nicht mehr festgestellt und statt der Entziehung der Fahrerlaubnis ein Fahrverbot als zusätzlicher Denkzettel verhängt werden.
LG Potsdam v . 16.12.2003:
Das gemäß § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB vermutete Fehlen der charakterlichen Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen kann nicht (mehr) festgestellt werden, wenn der Täter aus seiner Trunkenheitsfahrt deutliche Konsequenzen gezogen und seine Lebensführung - insbesondere seinen Alkoholkonsum - nachhaltig verändert hat. Von einer nachhaltigen Veränderung der Alkoholgewohnheiten des Täters kann etwa dann ausgegangen werden, wenn dieser unter erheblichem Einsatz von Geld und Zeit erfolgreich an einer intensiven Rehabilitationsmaßnahme für alkoholauffällige Kraftfahrer teilgenommen hat, ihm eine positive Verkehrsprognose erteilt und ein guter Rehabilitationserfolg bescheinigt wurde sowie eine laborärztliche Blutuntersuchung ergeben hat, dass auf Grund der untersuchten relevanten klinisch-chemischen Laborwerte keine Hinweise auf einen akuten oder chronischen Alkoholabusus bestehen.
LG Düsseldorf v. 11.04.2008:
Zwar ist der Täter einer Trunkenheit im Verkehr gemäß § 69 Abs. 2 Ziffer 2 StGB in der Regel als zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen. Maßgeblich für die Feststellung der Ungeeignetheit des Täters zum Führen von Kraftfahrzeugen ist indes nicht der Tatzeitpunkt, sondern der Zeitpunkt der letzten tatrichterlichen Aburteilung. Hat der Angeklagte bereits während des Strafverfahrens direkt nach der Tat eine Verkehrstherapie (hier: IVT-HÖ) begonnen und an dieser Maßnahme auch nachweisbar ernsthaft teilgenommen, kann ein Abweichen vom Regelfall des § 69 Abs. 2 StGB gerechtfertigt sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Angeklagte bis zur Urteilsverkündung des Amtsgerichts eine glaubhafte Alkoholabstinenz gezeigt hat.
AG Reinbek v. 15.09.2008:
Von der Entziehung der Fahrerlaubnis, der Einziehung des Führerscheins und der Verhängung einer Sperrfrist gem. §§ 69, 69 a StGB kann abgesehen werden, wenn zwar ein Regelbeispiel des § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB verwirklicht wurde, das Gericht jedoch die aus der Tat sprechende Vermutung der Ungeeignetheit des Angeklagten zum Führen von Kraftfahrzeugen als widerlegt erachtet, weil ausweislich eines freiwillig eingeholten medizinisch-psychologischen Gutachtens der Angeklagte zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung nicht mehr als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen ist.
AG Lüdinghausen v. 02.03.2010:
Hat ein wegen einer Trunkenheitsfahrt Angeklagter sich einer Rehabilitationsmaßnahme unterzogen und ein privat beauftragtes Fahreignungsgutachten vorgelegt, wonach seine Fahreignung wiederhergestellt ist, dann ist die Regelwirkung des § 69 Abs.2 Nr.2 StGB damit zur vollen Überzeugung des Gerichts widerlegt, sodass von einer Entziehung der Fahrerlaubnis abgesehen werden kann.
AG München v. 06.09.2011:
Von der Regelfahrerlaubnisentziehung nach einer Trunkenheitsfahrt kann jedenfalls dann abgesehen werden, wenn seit der Tat und der Führerscheinsicherstellung 10 Monate vergangen sind und der Angeklagte in dieser Zeit durch intensive verkehrspsychologische Maßnahmen (hier: IVT-Hö) seine Fahreignung wiederhergestellt hat. In einem solchen Fall ist jedoch ein „deklaratorisches“ Fahrverbot nach § 44 Abs. 1 S. 2 StGB festzusetzen.
OLG Köln v. 01.03.2013:
Die Ungeeignetheit des Angeklagten zum Führen von Kraftfahrzeugen im Sinne von § 69 Abs. 1 StGB muss noch im Zeitpunkt des Urteils gegeben sein. Eine Ungeeignetheit kann im Einzelfall nicht mehr festgestellt werden, wenn der Angeklagte erfolgversprechende psychologische Hilfe in Anspruch genommen hätte und ein nach den Grundsätzen der Begutachtungsrichtlinien erstelltes medizinischpsychologisches Gutachten zu dem Ergebnis gekommen ist, dass zukünftig das Führen eines Kraftfahrzeugs unter Alkoholeinfluss nicht zu erwarten ist (LG Oldenburg zfs 2002, 354 = DAR 2002, 327). Die Teilnahme an einer verkehrstherapeutischen Maßnahme kann daher Anlass zu weiterer Sachaufklärung in dieser Hinsicht geben.
AG Königs Wusterhausen v. 03.07.2015:
Von der Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 69 Abs. 1 StGB kann das Gericht absehen, wenn der Angeklagte nach Absolvierung einer verkehrspsychologischen Schulung nicht mehr als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen ist, insbesondere sich ausweislich der eingereichten Schulungsbescheinigung und der Zertifikate eingehend mit dem Alkoholproblem, seinen Ursachen und den daraus resultierenden Problemen gefasst und andere Problembewältigungsstrategien erlernt hat.
AG Berlin-Tiergarten v. 18.02.2016:
Bei positivem Nachtatverhalten kann von der Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 Abs. 1 Nr. 1 StGB abgesehen werden. In Betracht kommen insbesondere geständige Einlassung, glaubhafter Alkoholverzicht mit Abstinenznachweisen, der regelmäßige Besuch einer suchtherapeutischen Motivationsgruppe. Der unterbliebene Entzug kann dann durch ein 3-monatiges Fahrverbot kompensiert werden.
AG Frankfurt am Main v. 11.09.2019:
Hat der Angeklagte mit großem Aufwand an Zeit und Geld erfolgreich an einer Therapiemaßnahme teilgenommen, kann trotz Verkehrsteilnahme mit 2,09 ‰ von der Entziehung der Fahrerlaubnis abgesehen werden.
AG Bensheim v. 04.04.2006:
Hat ein wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr angeklagter Autofahrer seit der Tat bis zur Verhandlung über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr ohne weitere Beanstandungen am Straßenverkehr teilgenommen, so kann nicht mehr mit ausreichender Sicherheit gesagt werden, dass er nach wie vor ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen im Straßenverkehr ist. Eine Entziehung der Fahrerlaubnis kommt dann trotz des Vorliegens eines Regelfalls nach § 69 StGB nicht mehr in Betracht.
LG Düsseldorf v. 28.03.2017:
Zur Entkräftung der Regelwirkung des § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB und zur (verneinten) Verhängung eines Fahrverbots gem. § 44 StGB, wenn seit Begehung der Tat mehr als 20 Monate verstrichen sind, in denen der Beschuldigte beanstandungsfrei am Straßenverkehr teilgenommen hat.